In Berlin ist am Sonntag der Jugendkongress der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) und des Zentralrats der Juden in Deutschland zu Ende gegangen. Rund 400 junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren nahmen an dem viertägigen Treffen unter dem Motto »Wie antisemitisch ist Europa heute?« teil. In Vorträgen und Workshops diskutierten die Teilnehmer die Frage, ob der Judenhass in Europa zugenommen hat und was sie dagegen unternehmen können.
Den letzten Programmpunkt des Kongresses bildete am Sonntagvormittag die Podiumsdiskussion zum Thema »Wie antisemitisch ist Deutschland?« An dem Panel nahmen neben Aron Schuster und dem Schoa-Überlebenden Noah Klieger aus Israel jeweils ein Vertreter der Jugendorganisationen der großen Parteien teil – mit Ausnahme der Linkspartei, die die Einladung nicht annahm. »Bei uns in Hessen würde man dazu sagen: Nachtigall, ich hör dir trapsen«, kommentierte Moderator Daniel Neumann vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen das Fernbleiben der Linkspartei.
Die erste Frage in der Runde ging an Noah Klieger, der 1926 in Straßburg geboren wurde und das Vernichtungslager Auschwitz überlebte. Ob ein Europa ohne Antisemitismus realistisch sei, fragte Moderator Neumann. »Nein!«, antwortete Klieger ebenso klar wie deutlich. Der Judenhass sei eine jahrtausendealte Tradition, die sich ewig fortsetzen werde, betonte Klieger. »Eine Welt ohne Judenhass in Europa oder Deutschland ist ein frommer Wunsch!«
Beschneidungsdebatte Ob es sich vor diesem Hintergrund als junger Jude richtig anfühle, in Deutschland zu leben, wollte Neumann danach von Aron Schuster wissen. »Ja, es gibt Antisemitismus in Deutschland«, antwortete der Würzburger. Besondern negativ ist ihm die Beschneidungsdebatte im vergangenen Jahr in Erinnerung. »Was da alles an Ressentiments gegen uns Juden zutage getreten ist, war verstörend«, unterstrich Schuster.
Gleichwohl ist der Vize-Direktor der ZWST überzeugt: »Wir junge Juden sind und bleiben in Deutschland. Wir gehören hierhin.« Schuster, der selbst in der CSU aktiv ist und im Stadtrat von Würzburg sitzt, rief die Teilnehmer dazu auf, sich parteipolitisch zu engagieren. »Beteiligt euch, nehmt politisch Einfluss auf dieses Land und verleiht eurer Stimme Gehör!« Wie auf Zuruf meldete sich wenig später Juri Goldstein aus Erfurt und erklärte unter Beifall des Publikums, dass er jüngst von der CDU als Kandidat für Thüringens Landtag nominiert wurde.
Kennzeichnung Die Forderung nach mehr politischer Teilhabe unterstrich auch die Bundessprecherin der Grünen Jugend, Theresa Kalmer. Die Politikerin bekannte, eine »gewisse Affinität« zu Israel zu haben. Sie absolvierte ihr Freiwilliges Soziales Jahr in Tel Aviv und ist auch sonst ein Fan des jüdischen Staates, wie sie betonte. Gefragt, wie sie sich in der »Labeling-Aktion« der Bundes-Grünen stelle, wonach Waren aus den sogenannten besetzten Gebieten gesondert gekennzeichnet werden sollten, sagte sie: »Wir haben uns klar von diesem Vorstoß distanziert.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Der Schritt der Bundes-Grünen tut uns leid.«
Noch deutlichere Worte zu dem Vorhaben der Grünen fand Benedict Pöttering, stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungen Union.Warum es noch nie eine Kleine Anfrage von den Grünen etwa zu russischem Gas gegeben habe, fragte Pöttering rhetorisch – und gab direkt selbst die Antwort. »Weil es nicht um Israel ging! Die Grünen legen hier ganz klar doppelte Standards an.«
Armutszeugnis Daran anknüpfend kritisierte David Salm von der Jugendorganisation der FDP die Tendenz in der deutschen Parteienlandschaft, Israel an den Pranger zu stellen. Als Beispiel nannte er die Rede von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in der Knesset am Mittwoch dieser Woche. »Es ist ein Armutszeugnis, dass er als EU-Vertreter nach Israel reist, um in der Knesset nicht weniger als die Legende von Juden als Brunnenvergifter zu bemühen«, so Salm.
Einen durchaus schweren Stand während der Podiumsdiskussion hatte Johanna Uekermann von den Jusos. Sie gab an, dass es ihr ein Herzensanliegen sei, gegen Antisemitismus einzutreten »und so etwas wie die Schoa nie wieder zuzulassen«. Wichtig sei es ihr aber eben auch, dass sich Israelis und Palästinenser auf eine Zwei-Staaten-Lösung einigten. Um dies herbeizuführen, müsse die israelische Regierung unbedingt ihre Siedlungspolitik ändern, weil diese den Frieden in Nahost unmöglich mache, führte Uekermann aus.
Daraufhin meldete sich der Jugendkongress-Teilnehmer Daniel Borgmann zu Wort: »Es ist ja toll, dass die Jusos sich so für tote Juden einsetzen, aber mir scheint, als hätte die SPD Probleme mit lebenden Juden«, sagte Borgmann. »Aus welchem Grund eigentlich ist die Partei gegen die Siedlungspolitik Israels?« Auf diese Frage wusste die Jusos-Nachwuchspolitikerin nicht wirklich etwas Plausibles zu antworten.
Fazit Am Ende der Diskussion stellte Daniel Neumann Noah Klieger noch einmal die Frage, ob er durch das Gespräch mit den jungen deutschen Politikern etwas zuversichtlicher auf das jüdische Leben in Deutschland blicke. »Ich bin ein alter Israeli und ein großer Skeptiker«, bekannte Klieger. Es sei gut, dass sich deutsche junge Politiker gegen Antisemitismus engagieren. Mindestens ebenso wichtig sei aber auch, dass sie auch konkret den jüdischen Staat unterstützten – und in diesem Punkt hege er große Zweifel, so Kliegers pessimistisches Fazit.
Klieger hatte schon zuvor als einer von mehreren Referenten am Workshop- und Seminarprogramm des Jugendkonkresses mitgewirkt. Dort gaben unter anderem der Psychologe und Coach Louis Lewitan Einblicke in die »Psychopathologie des Antisemitismus«, Matthias Jakob Becker von der TU Berlin beleuchtete mit dem Thema »Antisemitismus im Internet« eine vergleichsweise neue Erscheinungsform des Judenhasses. Und Ron Schleifer von der israelischen Universität Ariel sprach über muslimischen Antisemitismus. Im Mittelpunkt stand am Freitag der Besuch des Hauses der Wannsee-Konferenz mit einer anschließenden Gedenkzeremonie und der Rede von Zentralratspräsident Dieter Graumann. Ein Highlight am Samstag war der Vortrag der Berliner Lehrerin Lea Feynberg über »Vorurteile unter jugendlichen Migranten«. In weiteren Workshops ging es um Judenhass in der Kirche und weitere Erscheinungsformen des Antisemitismus.
Trotz oder vielleicht gerade angesichts dieser schweren Themen wurde am Samstagabend mit der großen Jugendkongress-Party die vielleicht größte jüdische Party des Jahres gefeiert.
»Wir freuen uns sehr über die positive Resonanz der Teilnehmer«, sagte Aron Schuster, stellvertretender ZWST-Direktor, zum Abschluss des Jugendkongresses. Das große Interesse der über 400 Teilnehmer mache deutlich, dass die Tagung ein wichtiges Forum für junge jüdische Erwachsene aus ganz Deutschland sei. Mark Dainow, Jugenddezernent des Zentralrats, hob das besondere Gemeinschaftsgefühl während der Veranstaltung hervor: »Unsere jüdische Zukunft ist jetzt – dieses Gefühl
war jederzeit mit Händen zu greifen.«