Jüdische Studierendenunion Deutschland

»Wir holen uns den Campus zurück«

Die JSUD-Präsidentin Hanna Veiler über jüdische Studierende, Exmatrikulation als letztes Mittel und eine Auszeichnung in einem schwierigen Jahr

von Katrin Richter  15.05.2024 09:14 Uhr

Hanna Veiler Foto: Sommer

Die JSUD-Präsidentin Hanna Veiler über jüdische Studierende, Exmatrikulation als letztes Mittel und eine Auszeichnung in einem schwierigen Jahr

von Katrin Richter  15.05.2024 09:14 Uhr

Frau Veiler, wann waren Sie das letzte Mal mit einem guten Gefühl an einer deutschen Universität?
Ich war generell lange nicht mehr an der Uni, weil ich ja remote studiere. Aber es muss tatsächlich das letzte Mal vor Corona gewesen sein, dass ich die Uni mit einem guten Gefühl betreten habe. Ich habe in Tübingen studiert und damals die Debatte um die Umbenennung der Eberhard Karls Universität mitgestaltet. Seitdem ich mich politisch engagiere – vor allem im Aktivismus der jüdischen Studierenden – habe ich meine Schwierigkeiten mit dem universitären Raum. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich in einer meiner ersten Uni-Veranstaltungen krassen Antisemitismus erlebt habe.

Was war das für ein Ereignis?
Ich war zu Beginn meines ersten Semesters an der Uni in einer Veranstaltung zu Antisemitismus in der Linken. Das war eine linke Hochschulgruppe, die den Vortrag organisiert hatte. Es ging natürlich sehr schnell nicht mehr um linken Antisemitismus, sondern um Israel. Ich erinnere mich, dass ein junger Mann sagte, Israel sei doch aufgrund seiner Handlungen selbst schuld, dass es so viel Antisemitismus gibt. Ein älteres Paar meinte, es sei seine Aufgabe, gegen den Staat Israel aufzustehen, weil die Eltern Nazis waren und sie nun gegen den Faschismus, also ihrer Meinung nach Israel, kämpfen müssten. Kurz: Es wurden viele Dinge gesagt, die absolut antisemitisch waren. Ich weiß noch, dass ich in diesem Raum saß und nicht fähig war, dagegen zu argumentieren oder aufzustehen; auch wissend, dass ich wahrscheinlich die einzige jüdische Person in dem Raum war.

Gab es von anderen Seiten Widerspruch?
Eine Person deutete leicht auf die Täter-Opfer-Umkehr hin, aber es gab so gut wie keine Widerrede, bis ich ganz am Ende total verunsichert irgendwie das Wort ergriffen, mich als jüdische Person geoutet und gesagt habe, man solle doch irgendwie selbst einmal nach Israel reisen. Ich war wirklich noch sehr jung, hatte zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Argumentationstechniken zur Hand.

Wie würden Sie heute reagieren?
Ich hätte auf jeden Fall die Techniken, die Worte und das Wissen, um dagegen zu argumentieren. Ganz allgemein kann ich mir aber gut vorstellen, dass weiterhin nur sehr wenige Menschen tatsächlich widersprechen würden. Es ist heute gefährlich, sich in einem universitären Kontext gegen israelbezogenen Antisemitismus zu stellen. Es ist gefährlich, und im Zweifel bezahlt man damit mit seiner körperlichen Unversehrtheit.

Eigentlich sollten jüdische Studierende ja an die Uni gehen, Seminare belegen, Scheine machen, das Studentenleben genießen, aber wie sieht die Lebensrealität jüdischer Studierender heute aus?
Jüdische Studierende haben die gleichen Sorgen wie alle Studierenden in diesem Land. Man möchte einfach nur die Klausuren bestehen, es ans Ende des Semesters schaffen. Gucken, dass man am Ende des Monats noch irgendwie seine Miete zahlen kann, Zeit für Freunde hat, dass man irgendwie ein gutes und ausgewogenes, ein schönes Leben als junger Mensch hat. Aber der Antisemitismus, diese Existenzangst, dieses Hinterfragen der eigenen Sicherheit und das Hinterfragen dessen, welchen Raum man eigentlich noch hat, das ist omnipräsent. Sehr viele jüdische Studierende haben sich vor allem aus sozialen Räumen zurückgezogen.

Was heißt das?
Man geht eigentlich nur noch in die Uni, wenn man es unbedingt muss, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden lässt. Für freiwillige Uni-Veranstaltungen, die einfach auch Spaß machen könnten, haben viele einfach keine Kraft mehr, weil man sich nicht sicher fühlt. Das Semester hat ja gerade erst wieder angefangen, und die meisten jüdischen Studis haben so eine Fatigue entwickelt. Die meisten wollen einfach nur dieses Semester hinter sich bringen, den Abschluss schaffen und irgendwie durchkommen. Ohne größere Vorfälle, Bedrohungen oder Auseinandersetzungen. Wir sind so müde von diesen Existenzsorgen. Gleichzeitig waren jüdische Studierende aber selten so aktiv wie jetzt. Mehr und mehr Menschen haben ein politisches Awakening und verstehen, dass wir leider in einer Welt leben, in der sich junge Jüdinnen und Juden verteidigen müssen – sei es am Campus oder in Israel.

Wie reagieren die Universitäten auf die Bedenken und auch die Angst von jüdischen Studierenden?
Also, es ist nicht so, dass alle jüdischen Studierenden voller Angst sind und gar keiner mehr zur Uni geht, sondern wir sehen ja auch sehr viel Widerstandskraft. Wir sagen: Wir holen uns den Campus zurück. Es ist eher so ein Auf und Ab. Ich habe das irgendwann als Pingpong zwischen zwei Extremen bezeichnet. Wir beobachten durchaus, dass sich viele Universitäten in Prozessen der Auseinandersetzung mit den eigenen Strukturen befinden, sich Hilfe von Expertinnen und Experten holen. Trotzdem ist der Moment, um jüdischen Studierenden ein Sicherheitsgefühl zu geben, vorbei. Das hätte viel früher passieren müssen. Unserer Studierendengeneration wird niemals dieses Sicherheitsgefühl zurückgegeben werden können. Universitäten werden für uns einfach ein gebrandmarktes Gebiet bleiben.

Was sollten Hochschulen angesichts von Campus-Besetzungen tun?
Dafür sorgen, dass diese Versammlungen aufgelöst werden. Dass zumindest das ganz gut funktioniert, haben wir an vielen Stellen gesehen. Unsere Forderungen der vergangenen Monate haben sich nicht geändert. An vielen Universitäten mangelt es immer noch an Ansprechpersonen. Antidiskriminierungsstellen sind für jüdische Studierende keine passenden Anlaufstellen, weil keine Expertise im Bereich Antisemitismus vorliegt. Es gibt zwar freiwillige Angebote, aber die Beschäftigung mit Antisemitismus muss in bestimmten Studienfächern einfach auch verpflichtender Teil der Ausbildung werden.

In Berlin gestaltet sich eine Exmatrikulation aufgrund der Gesetzeslage schwierig. Trotzdem: Sollten Ihrer Meinung nach Studierende, die auch wirklich an der Uni immatrikuliert sind und sich an antisemitischen Protesten mit den einschlägigen Parolen beteiligen, exmatrikuliert werden?
In allen anderen Bundesländern ist es ja gar keine Diskussion – außer in Berlin. Wir stellen immer wieder fest, dass Leute das nicht wissen. Wenn man gegen bestimmte Regeln grob verstößt und die Ordnung der Universität vollkommen hintergeht, müssen Konsequenzen folgen – erst recht dann, wenn man ein antisemitischer Straftäter ist. Es kann nicht sein, dass Menschen, die wirklich eine akute Gefahr für jüdische Studierende darstellen, ganz normal am Campus ein und aus gehen können. Ein paar Monate Hausverbot reichen an der Stelle nicht. Bei überzeugten Antisemiten mit einem geschlossenen Weltbild werden ein paar Monate Hausverbot nicht so viel bewirken und sie höchstwahrscheinlich sogar noch mehr radikalisieren. In bestimmten Situationen ist es absolut wichtig, dass die Exmatrikulation ein Mittel ist, das gewählt werden kann, wenn Studierende straffällig werden. Wenn es Anführer dieser sogenannten Proteste sind, wenn sie immer wieder mit antisemitischen Äußerungen auffallen, wenn sie wieder einmal nach der Intifada rufen, dann muss die Exmatrikulation ein Instrument sein, das im Zweifel angewandt werden kann.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie Bilder von den Besetzungen der Berliner Humboldt-Universität und anderer Unis sehen? Haben Sie überhaupt noch Kraft, sich alles anzusehen?
Es ist so ermüdend, dass wir immer und immer wieder bei den Basics von Antisemitismus, von israelbezogenem Antisemitismus anfangen müssen. Dieses ständige Ankämpfen, das Erklären – für mich als JSUD-Präsidentin ist das ein Teil meiner täglichen Arbeit. Aber für viele jüdische Studierende ist das einfach etwas, was nicht dazugehören sollte. Wenn man in seinen 20ern ist und einfach nur ein schönes Leben haben möchte, durch die Uni kommen möchte und mit vielen anderen Dingen beschäftigt ist, die mit Anfang 20 wichtig sind.

War das vor dem 7. Oktober 2023 einfacher?
Ich glaube, während man sich sonst erlauben konnte zu sagen, ich bin zwar jüdisch, aber ich bin auch das und jenes, haben nun viele junge Jüdinnen und Juden wirklich dieses Gefühl von »Am Ende bin ich jüdisch, vollkommen egal, was ich sonst noch bin«. Und wenn ich nicht jüdisch bin, dann werde ich jüdisch gemacht, sozusagen. Also so ein bisschen Hannah Arendt: »Wenn du als Jude angegriffen wirst, musst du dich nicht als Mensch, sondern als Jude verteidigen.« Das ist einerseits wirklich eine bittere Erkenntnis, und andererseits glaube ich, dass es unsere Generation noch sehr viel lauter und sehr viel selbstbestimmter gemacht hat. Normalität gibt es für uns nicht mehr, die wird es auch nie wieder geben, aber der Kampfwille, der ist da.

In einem Ihrer »Rants with Hanna« auf Instagram sagen Sie, dass Sie sich auch gern einmal wieder mit den vielen anderen Dingen befassen würden, die die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) so macht. Was steht also an?
Es ist ein krasses Jahr, das muss man wohl niemandem sagen. Wir haben EU-Wahlen, wir haben Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern, Kommunalwahlen. Damit, was dieses Wahljahr für junge Jüdinnen und Juden bedeutet, befassen wir uns, wir planen eine größere Kampagne zu »75 Jahre Grundgesetz«. Wir haben vor ein paar Monaten einen Relaunch unseres Magazins angestoßen, die Summer University nähert sich, wir wollen eigentlich einen Schabbaton organisieren, um Menschen auch irgendwie zusammenzubringen – um auch mal wieder Spaß zu haben.

Sie wurden kürzlich von der Europäischen Bewegung Deutschland und der EU-Kommission zur »Frau Europas« ernannt. Wie geht es Ihnen damit?
Es ist total seltsam. Ich habe die Auszeichnung am Jom Haschoa bekommen, in einem Jahr wie diesem. Es ist sehr schwierig, das in meinem Kopf irgendwie zusammenzubringen. Irgendwie werden wir gehört, und unsere Arbeit wird wertgeschätzt, ich freue mich, wir freuen uns. Trotzdem sollte über die Symbolik hinaus noch etwas passieren. Es reicht nicht, eine jüdische Person mit einem Preis zu ehren und zu sagen »Danke für die tolle Arbeit«, sondern das Ziel ist ja, dass unsere Arbeit irgendwann nicht mehr notwendig ist und wir uns auf andere Dinge konzentrieren können.

Mit der Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) sprach Katrin Richter.

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