Gespräch

»Wir dürfen nicht unsichtbar werden«

Foto: Gaby Schütze

Jüdisch und queer – habt ihr das jemals als einen Widerspruch erlebt?
Anna Adam: Das letzte Mal ist uns beiden das vor ein paar Jahren passiert, da waren wir mit unserem »Happy Hippie Jew Bus« beim lesbischen Herbst eingeladen. Dort sollten wir unsere Arbeit vorstellen, und da sind ein paar Frauen aufgestanden, die sagten: »Das ist Verrat, das geht gar nicht.« Früher ist uns das öfter begegnet, da wurdest du in der feministischen Szene sofort beschimpft, wenn etwas Religiöses in deinem Leben Platz hatte. Aber auch innerhalb des jüdischen Kosmos fällt mir eine Geschichte ein: Als unser jüngster Sohn seine Barmizwa feierte, gab es hinterher in der jüdischen Gemeinde Getuschel: »Oh, das war die erste lesbische Barmizwa.« Und dann hat unser Sohn gesagt: »Das geht gar nicht, ich bin ein Junge!« Dann haben sich alle wieder beruhigt. Aber hier geht es beide Male nicht um unseren Widerspruch. Das sind die Irritationen von außen. Wir passen nicht ins Klischee.

Ariel Elbert: Ich erlebe das selbst auch nicht als Widerspruch, weil ich es ja lebe. Ich begreife queer und jüdisch sein als Spektrum. Es verändert sich je nach Wissensstand, je nach Erfahrung, die ich mache. Das sind keine für immer festgelegten Identitätsaspekte, sondern sie sind fluide. Manchmal spielt das Queere eine größere Rolle in meinem Leben, manchmal das Jüdische.

Leo Schapiro: Genau. Ich habe auch schnell für mich verstanden, dass das Schöne am Judentum ist, dass viele Gelehrte schon seit den 60er-Jahren queeres Leben als natürlichen Teil des Judentums betrachtet haben. Schließlich hat Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen. Und wenn Gott den Menschen queer erschaffen hat, dann können wir uns sicher sein, dass Gott ihn genauso liebt. Auch existieren zahlreiche Auslegungen, die das vermeintliche Verbot des männlichen homosexuellen Aktes zurückweisen und belegen, dass vielmehr nur homosexuelle Praktiken zum Zweck des Götzendienstes verboten sind. Zudem ist das Judentum insgesamt besonders progressiv, denn der Talmud kannte schon sechs Geschlechter. Die jüdische Liturgie war von Anfang an nicht klassisch binär.

Jalda Rebling ist Schauspielerin, Sängerin und ordinierte Kantorin.Foto: Gaby Schütze

Jalda Rebling: Über Adam Kadmon, den ersten Menschen, schreibt die Tora: »sachar unekeva bara otam«, männlich und weiblich schuf er sie. Der Ur-Adam vereinte alle Merkmale in sich. Also, die alte Welt war immer viel klüger, als man sich das in der modernen Welt denkt.

Leo: Ich habe es aber leider auch manchmal erleben müssen, dass Rabbiner in Synagogen queeres Leben diskriminiert haben. Dies ist für alle Betroffenen sehr schmerzhaft, vor allem dann, wenn sie damit hadern, ob sie ihre jüdische und queere Identität miteinander vereinbaren können.

Jalda: Unsere Weisen sagen, dass der Ewige selbst aussucht, welche Seele zu welcher Seele gehört, wer für wen bestimmt ist, lange bevor wir geboren werden. Und wenn wir dann auf der Welt wandeln, müssen wir unseren »Baschert« finden. Und ich habe mein »Baschert« eben in einem weiblichen Körper gefunden. Wo ist das Problem?

Jalda und Anna, ihr seid in Berlin Anfang der 90er-Jahre ein Paar geworden. Gab es da bereits so etwas wie eine queer-jüdische Community?
Jalda: Da muss man einen Schritt zurückgehen. Das war ja kurz nach dem Mauerfall. Wir Juden, egal, ob nun im Wessiland wie Anna oder im Ossiland wie ich, hatten uns immer gesagt: »Wenn wir groß sind, gehen wir nach Israel oder nach Südafrika oder sonst wohin.« Und dann fiel die Mauer, die Deutschen hatten »ihr Reich« wieder, und viele Juden sind abgehauen. Aber als dann nach zwei, drei Jahren klar wurde, die deutsche Demokratie hält, da haben wir verstanden: Wir müssen uns als Juden hier neu formulieren. In diesem Neuformulieren waren feministische und queere Themen natürlich präsent. Die Tage der Jiddischen Kultur und später das Hackesche Hoftheater waren unsere Orte. Es war eine Zeit des Entdeckens: »Hey, Leute, es ist so toll, jüdisch zu sein.« Das hat uns aber auch Ärger eingebracht, nicht nur von der Welt da draußen, sondern auch von unserer Elterngeneration, die die Schoa überlebt hatte. Insofern war das queere Thema immer nur eines von vielen.

Anna: Wir waren damals beide als freiberufliche Künstlerinnen sehr beschäftigt und mussten drei Kinder versorgen, da standen praktische Themen im Vordergrund: zum Beispiel, dass ich ein Sorgerecht bekomme, denn Jalda war die biologische Mutter. Wir waren mit die Ersten, die einen Familienvertrag gemacht haben.

»Ich habe mein ›Baschert‹ eben in einem weiblichen Körper gefunden.«

jalda rebling

Jalda: Den haben sich viele andere queere Paare bei uns abgeguckt.

Anna: Die erste queer-jüdische Gruppe, an die ich mich erinnere, war »Meshulash«. Das war eine jüdisch-europäische Künstlergruppe mit Menschen aus neun oder zehn europäischen Ländern, darunter viele Queers. Man hatte sich zusammengefunden, nachdem die Nazis 1992 in Rostock-Lichtenhagen das Flüchtlingsheim angezündet hatten. Da ist damals eine jüdisch-französische Künstlergruppe hingefahren und hat eine Aktion gemacht. Parallel kam auch eine Gruppe aus Berlin dazu, ein ungarisch-jüdischer Künstler, und ein paar Menschen aus der Schwulen-Szene. So hat man sich gefunden. Wir haben uns in Kneipen und Ateliers getroffen – Bildende Künstler, Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, Journalisten, alles durcheinander. Wir waren politisch, aber keine rein queere Szene.

Jalda, du hast 2004 das erste schwule jüdische Paar in Berlin getraut.
Jalda: Na, nicht nur ich. Wir waren zu dritt, Rabbi Elisa Klapheck und Anna waren auch dabei.

Anna: Ich erinnere mich noch, dass die beiden Männer sehr groß waren, ich musste die Chuppa ganz hoch bauen. Normalerweise umkreist die Frau ja ihren Mann sieben Mal, und dann haben wir gesagt, da machen wir halbe-halbe.

Jalda: Der Ehevertrag, die Ketuba, war natürlich auch anders. In der klassischen Version geht es darum, dass die Braut von ihrem Brautvater an den Bräutigam übergeben wird. Die amerikanische Jüdin Anita Diamant hatte 1985 schon angefangen, die Dinge so neu zu formulieren, dass es ein gleichberechtigter Vertrag, ein Brit Ahuvim, wird. Etwas, was ich allen Paaren empfehle.

Anna: Die Chuppa fand ziemlich versteckt in einer Kneipe statt. Aber die Jüdische Allgemeine hat darüber berichtet, und ein paar Tage später hat mir jemand in der Jüdischen Volkshochschule gesagt, dass ich dafür aus der Gemeinde verbannt werden würde. Ich habe einfach nur gegrinst und gesagt: Dafür müsste ich erst einmal Gemeindemitglied werden.

Ariel: Darf ich ganz kurz dazwischenfragen? War diese Chuppa nur symbolisch? Klar, so eine Zeremonie ist immer schön, aber ich frage mich: Vor wem bin ich dann eigentlich verheiratet? Welche rabbinische Autorität erkennt das an?

Jalda: Darum geht es nicht, sondern es geht um den Bund vor Zeugen. Anna und ich haben uns unsere Ketuba gegenseitig geschrieben. Vorher mussten wir überlegen: Was wollen wir einander eigentlich versprechen? Die Bindung, die du unter der Chuppa eingehst, die Verbindung der zwei Neschamot, der Seelen, die einander von Haschem schon vorbestimmt worden sind, ist eine Bindung, die bleibt über dieses Leben hinaus.

Anna: Da spürt man etwas. Es ist so eine intensive Zeremonie.

Anna Adam ist Bildende Künstlerin und lebt zusammen mit Jalda Rebling im brandenburgischen Wittbrietzen.Foto: Gaby Schütze

Ariel: Ich frage deshalb, weil ich gerade aus Israel komme, und dort ist es auch sehr kompliziert. Die queeren Zeremonien werden gehalten, aber nicht vom Staat anerkannt, und das ist für viele immer noch sehr schwierig auszuhalten.

Anna: Aber wenn ich zum Beispiel in Amerika in die »Jewish Renewal«-Gemeinde gehen würde, dann würden die das sehr wohl akzeptieren.

Jalda: Judentum war immer vielfältig. Es hat immer viele verschiedene Gruppen und Strömungen gegeben. Ich habe 2007 meine Smicha erhalten, und danach kamen Juden mit spirituellen Bedürfnissen auf mich zu, die in den Gemeinden nicht erfüllt werden konnten. Dann habe ich mich mit meinen Rabbonim, mit denen ich regelmäßig Kontakt habe, beraten und Entscheidungen getroffen. Manchmal sehr einsame Entscheidungen. Wenn ich das nicht gemacht hätte, dann wäre diesen Menschen nicht geholfen worden.

Anna: Mir ist aufgefallen, dass viele aus unserer Generation deutlich weniger auf diese Anerkennungsthemen schauen. Ob das jetzt der Gemeinde recht ist, was wir tun, hat uns nicht so interessiert. Wir sind kreativ geworden und haben uns gedacht: Wenn die Gemeinden noch nicht so weit sind, dann suchen wir uns eben andere. Du findest irgendwo in der Welt sicher ganz tolle Leute, die dich überhaupt nicht infrage stellen.

Leo: Das finde ich spannend. Unsere Generation hat genau andersherum gedacht. Uns hat es gerade nicht genügt, dass wir nur in kleinen, marginalisierten Gruppen als queer-jüdische Menschen anerkannt sind. Genau vor diesem Hintergrund haben wir damals unseren Verein Keshet Deutschland mit dem Ziel gegründet, in die etablierten Gemeinden hineinzuwirken und eine Anerkennung von queer-jüdischen Menschen in den großen jüdischen Institutionen zu erreichen. Wir wollten queer-jüdisches Leben überall sichtbar und selbstverständlich machen. Ihr, Anna und Jalda, seid extrem gegen den Strom geschwommen damals …

Anna: Ich bin ein paar Mal verhaftet worden, weil ich von einer Frau geküsst wurde. Wir reden ja über eine ganz andere Zeit.

»Als unser Sohn Bar Mitzwa hatte, gab es in der Gemeinde Getuschel.«

anna adam

Leo: Absolut. Ich habe sehr großen Respekt vor dem, was ihr alles geleistet habt. Wir hatten es einfacher, weil queere Menschen gesamtgesellschaftlich bereits anerkannter waren. Allerdings waren wir in den deutschen Gemeindestrukturen vor der Gründung von Keshet mit der Akzeptanz noch nicht so weit. Dort wurden queere Identitäten überwiegend tabuisiert, und nur wenige jüdische Menschen waren in den Gemeinden offen queer.

Jalda: Ich hatte neulich eine Diskussion. Es gibt im Land Brandenburg diverse versprenkelte Juden jüngerer Generationen, die sich trafen, um sich zu besprechen: Was wollen wir eigentlich, und was brauchen wir? Da wurde erst einmal ein Forderungskatalog aufgestellt: Wir brauchen Rabbiner, die uns betreuen. Wir brauchen koscheres Essen, wir brauchen, wir brauchen, wir brauchen. Und da habe ich gesagt: Ihr Lieben, wenn ich mein Leben lang darauf gewartet hätte, bis die Strukturen da sind für das, was ich leben möchte, dann wäre das Leben an mir vorbeigerauscht. Wenn ihr koscher leben wollt in Brandenburg, dann pflanzt Gemüse an, findet eine Bio-Kuh und bezahlt den Schochet. Wir sind diese Generation: Wir haben einfach gemacht. Manchmal auch, ohne vorher darüber nachzudenken. Aber wir haben unser Leben bewusst so gelebt, wie wir es leben wollten, und haben uns da nicht hineinreden lassen. Und wenn das jemandem nicht gepasst hat, war das nicht unser Problem, sondern deren Problem.

Es scheint einen Paradigmenwechsel gegeben zu haben. Woher kam auf einmal der Anspruch, als queer-jüdische Personen in den Gemeindestrukturen akzeptiert zu werden?
Leo: Die Situation war damals zunächst so, dass die meisten queeren Menschen nicht als Teil der Gemeinde sichtbar waren. Das heißt, jeder kannte nur vereinzelt irgendeine andere jüdisch-queere Person, viele waren nur im engen Freundeskreis »out«. Wir haben es dann 2018 nur mit Schwierigkeiten geschafft, zehn Personen für die Vereinsgründung zusammenzubekommen. Aber schon beim ersten Schabbat waren wir 60 Leute, beim nächsten 100, und unseren jährlichen Pride Shabbat vor dem Berliner CSD besuchen inzwischen circa 200 Menschen. Das zeigt, wie unfassbar vielen Menschen es wichtig war, endlich diesen Raum zu haben, in dem sie sich als queer-jüdische Personen entfalten können. Sie haben sich aber erst durch die Institutionalisierung und den Safe Space getraut, sichtbar zu werden.

Welche Auswirkungen hatte die jüdische Zuwanderung aus der Sowjetunion?
Leo: In den ersten Jahren kamen immer wieder Menschen zu unseren Veranstaltungen, die in ihrer Gemeinde oder in der Familie ihre queere Identität versteckt haben. Menschen, die uns sagten, dass sie ganz lange ihre jüdische oder ihre queere Identität abgelegt hatten, weil sie dachten, sie könnten nicht beides leben. Mein Eindruck ist, dass es sich hierbei vor allem – aber nicht nur – um Kinder aus postsowjetischen Familien handelte, in denen leider queer-feindliche Vorurteile stark vorherrschen und es dadurch große Ängste vor einem Coming-out gibt.

Leo Schapiro ist Mitgründer von Keshet Deutschland und Professor für Wirtschaftsrecht an der HTW Berlin.Foto: Gaby Schütze

Ariel: Ich komme auch aus einer sehr homophoben Familie. Wir kommen aus der Ukraine. Viele Jüdinnen und Juden, die wie ich mit der Einwanderungsbewegung der 90er-Jahre gekommen sind, haben das Jüdischsein nicht wirklich gelebt, viele sind Vater-Juden oder Großvater-Juden. Keshet nimmt alle auf, ohne zu fragen. Für mich und meine Generation ist das extrem wichtig. Hier musst du dich nicht outen – weder als queer noch als jüdisch. Bei Keshet hatte ich die Möglichkeit, meine Erfahrung, meine Identität mit einzubringen und Teil einer queer-jüdischen Gemeinschaft zu sein. Das kannte ich vorher so nicht.

Leo: In den Gemeinden, in den Jugendzentren und auf den Machanot existierte sehr lange kein Raum für queer-jüdisches Leben. Wir Kinder sowjetischer Eltern haben diesen Angeboten zwar extrem viel zu verdanken, weil wir hierdurch unsere jüdische Identität überhaupt erst formen konnten und zahlreiche Freundschaften entstanden. Aber viele queere Menschen berichten, dass sie sich damals mit ihrer queeren Identität dort nicht wohlgefühlt haben. Es gab mangels Akzeptanz und Angebot keine Möglichkeit, seine queere Identität zu entfalten.

Wie versucht ihr, das zu ändern?
Leo: Unser Verein Keshet Deutschland hat von Anfang an mit der ZWST kooperiert, mit dem Begabtenförderungswerk ELES, mit der JSUD, mit Makkabi. Auch der Zentralrat der Juden ist ein wichtiger Kooperationspartner. Wir versuchen, all diese und weitere Organisationen mit ins Boot zu holen, um deutlich zu machen: Ihr seid von nun an auch dafür verantwortlich, dass queer-jüdische Menschen sich in euren Räumen wohlfühlen.

Wie liefen diese Gespräche?
Leo: Sehr unterschiedlich. Einige Organisationen waren sehr offen und unterstützten uns von Anfang an. Es gab aber auch Organisationen, die verhaltener reagiert haben. Vereinzelt sind auch Synagogen und Gemeinden bereit, mit uns zu kooperieren. Die Synagoge Fraenkelufer ist zum Beispiel ein sehr enger Partner. Auch durften wir etwa im Mannheimer Jugendzentrum einen Workshop abhalten. Das gefiel den Jugendlichen sehr. Es ist besonders wichtig, Aufklärungsarbeit für Kinder anzubieten. Leider sind aber auch viele Gemeinden weiterhin nicht bereit, mit uns zusammenzuarbeiten.

Die Akzeptanz in der jüdischen Gemeinschaft ist das eine. Aber wie wurdet ihr als Juden in der queeren Community aufgenommen?
Ariel: Die queere Gemeinschaft, in der ich lange sehr aktiv war, ist sehr antisemitisch. Auch ich selbst war antisemitisch. Ich wollte mich von meiner Familie abgrenzen und mit allem Jüdischen nichts zu tun haben. Bei Keshet habe ich am Anfang auch noch antisemitische Sachen gesagt, aber man hat mich sein und lernen lassen. Das war eine sehr gute Erfahrung.

»In den Gemeinden wurden queere Identitäten überwiegend tabuisiert.«

leo schapiro

Anna: Das mit dem Antisemitismus in der Linken war schon immer so. Damals in der Hausbesetzerzeit habe ich das auch erlebt.

Ariel: Mittlerweile ist mein ganzes Umfeld jüdisch. Das hätte ich nie gedacht.

Jalda: Das ist doch echter Romanstoff!

Leo: Als Keshet gegründet wurde, war bereits klar: Unser Ziel ist nicht nur die Anerkennung der queeren Community in der jüdischen Welt, sondern auch der Kampf gegen Antisemitismus in der queeren Szene. Schon damals war in queeren linken Räumen kaum Platz für jüdische Menschen. Das Problem hat sich nach dem 7. Oktober um ein Vielfaches potenziert. Natürlich darf man die israelische Regierung kritisieren und Mitgefühlt mit der palästinensischen Zivilbevölkerung empfinden. Jüdischen Opfern wird aber kaum Empathie entgegengebracht. Stattdessen wird häufig die Hamas glorifiziert, obwohl sie queere Menschen verachtet und hinrichtet. Palästinensischen Queers wird daher oft Schutz in Israel gewährt. Es wird außerdem verkannt, dass jüdische Menschen seit mehr als 2000 Jahren verfolgt und getötet wurden, ein Selbstbestimmungsrecht haben und auf einen eigenen Staat besonders angewiesen sind. In der queeren linken Szene wird aber von jüdischen Personen häufig verlangt, antizionistisch zu sein und sich von Israel loszusagen, anderenfalls wird man ausgeschlossen.

Was bedeutet das für euren Aktivismus?
Leo: Wir haben in den letzten Jahren so viel dafür getan, dass jüdisches Leben sichtbar und divers wahrgenommen wird. Jetzt mussten wir feststellen, dass viele Menschen, zu denen wir bereits Brücken gebaut hatten, plötzlich antisemitische Aussagen in sozialen Medien posten. Die Brücken wurden wieder zerstört. Wir haben auch das Gefühl, uns wieder unsichtbar machen zu müssen, weil wir uns nicht mehr trauen, unsere jüdische Identität überall offen zu zeigen.

Jalda: Das ist der größte Fehler, den wir machen können.

Leo: Du hast recht. Aber im Moment muss man sich aus Sicherheitsgründen leider immer zweimal überlegen, ob man sich als jüdische Person erkennbar zeigt. Es ist sogar so weit gekommen, dass Keshet erstmals am CSD nicht als offizielle Laufgruppe teilgenommen hat, weil wir die Sicherheit der Gruppe in der Menschenmenge nicht gewährleisten konnten. Wir wurden aber dankenswerterweise von einer unterstützenden Organisation auf deren Wagen eingeladen. Dadurch konnten einige Vereinsmitglieder vom Truck aus sicher und stolz die Keshet-Flagge mit Magen David zeigen.

Ariel Elbert arbeitet am Staatstheater Braunschweig und ist im Vorstand des queer-jüdischen Vereins Keshet Deutschland.Foto: Gaby Schütze

Ariel: Von diesen Ausschlüssen sind übrigens nicht nur Jüdinnen und Juden betroffen. Mein Partner ist nicht jüdisch, solidarisiert sich aber mit mir, wofür er ebenfalls aus linken Räumen ausgeschlossen wird.

Jalda: Der blanke Antisemitismus der Linken ist ja nicht neu. Wir sind alle damit aufgewachsen. Meine Mama hat mich eines gelehrt: Wo auch immer du bist, sorge dafür, dass du Nachbarn findest, denen du vertrauen kannst. Als der 7. Oktober passierte, haben wir eine unglaubliche Solidarität von den Menschen in dem kleinen brandenburgischen Dorf erfahren, in dem wir leben. Das treibt mir heute noch die Tränen in die Augen, wenn ich daran denken, wie sehr wir unterstützt worden sind. Aber in unseren alten Kreisen haben wir jede Menge Freunde verloren. Das sind Freunde in Anführungsstrichen. Doch das Falscheste, was wir jetzt machen können, ist, uns zu verstecken. Wir dürfen nicht unsichtbar werden! Wenn wir unsichtbar werden, dann ist es genau das, was die wollen.

Ariel: Aber du sprichst aus einer sicheren Position heraus. Du bist eine gestandene Person, du hast dich in der Arbeitswelt etabliert. Viele von uns haben das noch nicht. Für mich ist es schwer, im Kulturbereich Arbeit zu finden, obwohl ich genug Qualifikationen habe. Einfach nur, weil ich offen jüdisch lebe und damit an die Öffentlichkeit trete. Das ist Antisemitismus. Ich würde auch am liebsten sagen: Zeigt offen euer Jüdischsein! Aber gerade leben wir in einer Zeit, in der das große Nachteile mit sich bringt.

»Die queere Gemeinschaft, in der ich lange sehr aktiv war, ist sehr antisemitisch.«

ariel elbert

Was muss sich verändern? Was wünscht ihr euch und kommenden queer-jüdischen Generationen?
Anna: Ich wünsche mir ganz einfach eine ganz tiefe, große, echte innere Gelassenheit. Die ist allen im Moment abhandengekommen. Außerdem die Selbstverständlichkeit, ohne Ängste und Selbstzweifel einfach auszuprobieren, wo das Leben einen hintreibt und wen ich lieben will und wie lange und wie viele.

Ariel: Ich wünsche mir ein Netzwerk jüdischer Strukturen, in dem wir uns gegenseitig hochziehen und einander sehen können und unsere internen Konflikte auch mal beiseitelassen. In solchen Zeiten müssen wir füreinander da sein.

Leo: Ich wünsche mir in der Gesellschaft mehr Bildung zu queeren Lebensrealitäten, damit diese selbstverständlich werden. Gleichzeitig wünsche ich mir für die jüdische Gemeinschaft, dass sie in Europa und der Welt stark und mutig bleibt, Dialoge führt, wenn diese möglich sind, und in Sicherheit leben kann.

Jalda: Ich wünsche mir für die Generation unserer Enkelkinder eine offene Gesellschaft, in der Menschen neugierig aufeinander zugehen und die Verschiedenheit von Menschen annehmen. Selbst wenn du ein Teenager bist und eigentlich noch gar nicht weißt, wo du eigentlich hinwillst. Den Traum von der offenen Gesellschaft will ich einfach nicht aufgeben. Zum Glück gibt es immer wieder genügend Räume, in denen wir diesen Traum auch leben können und gelebt haben. Und wenn wir »ollen Alten« irgendetwas tun können, um euch zu unterstützen, und wenn es nur ein offenes Ohr ist, dann sind wir für euch da.

Das Interview führten Mascha Malburg und Joshua Schultheis.

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