Für die Kleiderspenden war einfach kein Platz mehr. Das Fassungsvermögen des 3,5-Tonnen-Lieferwagens, den Aleksander Tanunin gemietet hatte, reichte gerade einmal für die vielen Päckchen, Pakete und Kartons mit gespendeten Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Medikamenten aus, die sich im Hof der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) in Stuttgart angehäuft haben. Spenden, die so schnell wie möglich an die slowakisch-ukrainischen Grenze transportiert werden sollten.
Weil das Ukrainische Rote Kreuz von dort gemeldet hatte, dass man bereits mehr als genug an warmer Kleidung habe, blieben Jacken, Pullover, Mützen, Schals und Handschuhe zurück. Und dann erwies sich genau das als Glück, denn bereits zwei Tage später konnte die Gemeinde in Stuttgart die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine in Empfang nehmen, unterbringen und mit frischer Kleidung versorgen. Nun kommen täglich mehr.
Die jüdischen Studierenden erfahren eine überwältigende Hilfsbereitschaft.
Die Jüdische Studierendenunion Württemberg (JSUW) hat zu dieser Aktion für die von Putins Armee überfallenen, tödlich bedrohten und verzweifelten Ukrainer aufgerufen und eine überwältigende Hilfsbereitschaft erfahren. »Was braucht ihr?«
Eine der Mütter, die an diesem Nachmittag ihre Kinder vom Kindergarten abholt und von der kurzfristig angesetzten Aktion erst jetzt erfährt, verspricht: »Ich komme wieder. Was soll ich mitbringen?« »Essen«, ruft ihr Alon Bindes, der 25-jährige Student der Wirtschaftswissenschaften, zu. Denn auch das ist täglich von den Grenzen zu hören: Lebensmittel werden knapp, Hunger droht. Gebraucht werden auch Hygieneartikel und Medikamente. »Wir haben aus Spendengeldern schon Medikamente für 2800 Euro gekauft«, berichtet der 26-jährige Aleksander, ein angehender Bauingenieur.
Zolldeklaration Kaum ohne Verschnaufpause können Alon Bindes und seine Freunde, Aleksander Tanunin und Elishevah Breuning, alle drei vom JSUW-Vorstand, Spenden entgegennehmen und die Pakete mit detaillierten Inhaltslisten versehen. Der Zoll will wissen, was sich darin befindet: Konserven, Kaffee, Tee, Zucker, Teigwaren, Riegel und Power-Snacks, Kekse, große Packungen Mazze, Kindernahrung, Getränketräger mit Mineralwasser, Cola und Säften, Babywindeln, Duschgel, Zahnpasta und -bürsten, Medikamente gegen Schmerzen, Fieber und Erkältungen, Vitamine und Verbandszeug. Und das Kuscheltier, groß wie ein Kleinkind, das Stephan Ahrung aus Tübingen mitgebracht hat, muss auch mit.
Das Netzwerk der Studenten erstreckt sich von Stuttgart bis Wien.
»Ich bin stolz auf unsere jungen Leute«, sagt IRGW-Vorstandssprecherin Barbara Traub. Es ist ein Netzwerk jüdischer Studierender, das sich bis Wien, zu den Jüdischen österreichischen HochschülerInnen (JÖH), erstreckt und die Gruppierungen von Bayern über Baden, Hessen bis Nordrhein-Westfalen einschließt: »Ein humanitärer Korridor in die Ukraine«, unterstreicht Alon die Bedeutung dieser Menschenkette. »Mein Sohn hat in Karlsruhe bei der Spendenaktion mitgearbeitet«, erzählt Viktor Yasenyev. Er und seine Frau Nataliya stammen aus Donezk und zittern um Brüder, Schwestern und Freunde: »Unser Sohn will Frauen und Kinder aufnehmen.«
Unterkunft Barbara Traub weiß, dass in Stuttgart Flüchtlinge bereits bei Verwandten untergekommen sind. Auch die Gemeinde sei vorbereitet, versichert sie zu diesem Zeitpunkt: »Wir betreuen zwei staatliche Unterkünfte für Zuwanderer und haben dort auch freie Plätze, natürlich auch für nichtjüdische Flüchtlinge.« Die Gemeinde arbeite eng mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), dem Land und auch den anderen Kommunen mit IRGW-Gemeinden, zum Beispiel Ulm, zusammen, um wichtige Fragen wie die einer Krankenversicherung zu klären. Zwei Tage später ist die Gemeinde bereits gefordert.
Auch Helena Lapidus, die vor 30 Jahren als Elfjährige aus der Ukraine nach Deutschland kam und als Übersetzerin und Dolmetscherin arbeitet, will Flüchtlinge aufnehmen. Sie ist in Kontakt mit Freunden und Familie in Charkiw und Donezk und zutiefst deprimiert: »Was haben wir Putin getan, dass er unser Land kaputt macht, ein friedliches Land?«
Wie verflochten die persönlichen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland sind, wird deutlich: Wladimir Seifert kommt aus Kiew, ist aber in Russland geboren: »Meine Mama ist aus der Ukraine, der Vater aus Belarus und der Opa aus Kasachstan.« Immer wieder hört man »Spasibo«, wenn Aleksander den Spendern auf Russisch dankt. Zum Beispiel dem Ehepaar, das aus St. Petersburg stammt und sehr bedrückt wirkt: »Wir sind nicht für diesen Krieg. Aber die Leute haben ihn – gemeint ist Putin – gewählt«, sagen sie schulterzuckend.
Es gibt ein Gefühl der Verbundenheit mit der Heimat auf beiden Seiten.
»Wir haben auch russische und ukrainische Gemeindemitglieder«, sagt Barbara Traub. Kommt es zu Konflikten? »Es gibt natürlich das Gefühl der Verbundenheit mit der Heimat auf beiden Seiten, und es gibt auch Putin-Anhänger, die in ihm den Garanten für ein starkes Russland sehen«, weiß Traub. »Aber den Krieg befürwortet keiner.«
Dann wird der 3,5-Tonner beladen. Aleksander fährt ihn nach München. Dort wird bei der Israelitischen Kultusgemeinde in der Reichenbachstraße die Stafette der Hilfe weitergereicht für die Etappen nach Wien und endlich zur Grenze, wo das Ukrainische Rote Kreuz die Spenden übernimmt und verteilt. An Tausende, die auf Hilfe warten.