Was macht der Vorhang im Betraum? Warum müssen die Männer in der Synagoge ihr Haupt bedecken? Welche Rolle spielt die Frau im Judentum? Wie schmeckt Mazze? Diese und viele andere Fragen soll Bina Rosenkranz von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) bei der Führung in der Synagoge Esslingen beantworten. Dicht gedrängt sitzen 30 Teilnehmer aller Generationen im Synagogenraum. 200 Jahre Synagoge gibt es in diesem Jahr in Esslingen zu feiern, und zu diesem Anlass sind viele Veranstaltungen zu organisieren und durchzuführen.
Die Esslinger Synagoge ist eher unauffällig. Kunstfreunden als »Galerie Im Heppächer« bekannt, konnte das zweistöckige Gebäude an die Gemeinde zurückgegeben und ab März 2012 wieder als jüdisches Gemeindezentrum genutzt werden. Etwa 300 Mitglieder zählt die Gemeinde.
Geschichte Der Blick in die Historie zeigt: Mit Genehmigung des württembergischen Königs Friedrich I. durfte sich 1806 die neu gegründete Gemeinde eine Synagoge einrichten. Die Familien begnügten sich zunächst mit einem gemieteten Betraum. Als der gekündigt wurde, konnte zum Glück nach einiger Bedrängnis Anfang 1819 ein zweistöckiges mittelalterliches Gebäude in der Esslinger Altstadt erworben werden – es war das ehemalige Zunfthaus der Schneider.
Zu den Hohen Feiertagen wurde das umgebaute Haus mit Betsaal, Unterrichtsraum und Wohnung für den Vorbeter und Lehrer bezogen. Fast 120 Jahre lang fand die Gemeinde hier ein religiöses Zuhause für Gottesdienste. 1889/90 wurden durch eine Renovierung dank einer neuen Bestuhlung die Kinder aus der Gemeinde und aus dem Waisenhaus »Wilhelmspflege« in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. 25 Sitzplätze für Mädchen und Jungen waren umgeben von jeweils 30 Plätzen für Frauen und Männer. Heute sitzen die Gottesdienstbesucher vor schlichten Schul tischen, Frauen und Männer getrennt durch einen Vorhang.
Das Gebäude selbst wurde beim Novemberpogrom nicht gebrandschatzt.
Am frühen Nachmittag des 10. November 1938 drangen Männer, die sich vorher an einer von der NSDAP organisierten Kundgebung »gegen die Juden« auf dem nahegelegenen Marktplatz aufgeheizt hatten, in das Haus im Heppächer ein, zerstörten und verbrannten Einrichtungsgegenstände und rituelle Gegenstände. Das Gebäude selbst wurde beim Novemberpogrom nicht gebrandschatzt. Ab 1941 zog die Hitlerjugend ein, nach dem Ende des Krieges war das Gebäude noch einmal für ein knappes Jahr Synagoge. Dann drängte es die wenigen Mitglieder der Gemeinde weg aus Deutschland.
Zuwanderung Jüdisches Leben kehrte erst nach der Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wieder ein. Vor allem der Einzug einer eigenen Torarolle machte in ganz Esslingen Furore und vertiefte das Bewusstsein, jüdische Bürger in der Stadt zu haben. Wie ein Zaubergarten tat sich bei diesem Anlass für die Bürgerschaft der kleine idyllische Garten hinter dem Haus auf. Seit 2017 wird hier das Kerzenzünden zu Chanukka öffentlich gefeiert.
»Die starken Bekenntnisse zu jüdischem Leben in unserer Mitte halte ich gerade in diesen Zeiten für besonders wichtig«, sagt Esslingens Oberbürgermeister Jürgen Zieger. Bald wird er als Repräsentant der bürgerlichen Gemeinde auch einen neuen Rabbiner begrüßen können. Rabbiner Jehuda Puschkin, der als »Wanderrabbi« die Gemeinde betreute, wurde in Stuttgart Nachfolger von Landesrabbiner Netanel Wurmser.
Festveranstaltung: 2. Juni, 17 Uhr, Gemeindehaus am Blarerplatz, Eintritt frei