Gastro

Wie bei Muttern

Die Discokugel wurde lange erfunden, bevor es die Disco überhaupt gab. Die ersten verspiegelten Kugeln, damals als »Vielzahl Reflektor« bekannt, schmückten nämlich bereits in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zahlreiche Varietés und Tanzlokale, bevor sie die Klubs erhellten. So eine Glitzerkugel hängt auch im Zentrum des ehemaligen großen Ballsaals des vor 111 Jahren eröffneten »Clärchens«, des legendären Ballhauses in Mitte. Eine Erinnerung daran, dass an diesem legendären Ort über mehrere Epochen hinweg getanzt wurde, als gäbe es kein Morgen.

Seit der Wiedereröffnung – nach einer ausgiebigen Phase der Sanierung – wird im unteren großen Ballsaal allerdings nicht mehr geschwoft, sondern aufgetischt. Seit Ende September hat das Restaurant »Luna DʼOro« geöffnet und heißt Gäste mit – anders als der Name suggeriert – nicht etwa italienischer, sondern deutscher Küche willkommen. Zweifel, ob dieses Konzept aufgeht, werden bald zerstreut. Die Gäste begeben sich auf eine Zeitreise: Längst Vergessenes kommt wieder ans Licht und an den Gaumen. Auch die deutsche Küche hat ihre »Klassiker«.

Wie ein Mond überstrahlt die Spiegelkugel die 146 Sitzplätze und taucht den traditionsreichen Ort, der zwei Weltkriege, eine Wiedervereinigung und ein halbes Dutzend Währungsreformen überstanden hat, in ein magisches Licht.

Wo einst Tanzabende stattfanden ...

Wo einst Tanzabende stattfanden, tafeln jetzt Berliner wie Berlin-Besucher umgeben von Mauern, die so viel zu erzählen hätten, könnten sie doch nur sprechen: spektakuläre Geschichten über berühmte Persönlichkeiten, die im weitläufigen Ballsaal ihr Tanzbein schwangen, von Künstlern wie etwa George Grosz, der im Ballhaus reichlich Inspiration für seine gesellschaftskritischen Gemälde fand, von konspirativen Treffen und natürlich von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Epochen, die dem Ballhaus den jeweiligen Stempel der Zeit aufdrückten.

Das Wandbild eines tanzenden Paares gleich hinter der Bühne soll eine Hommage an die legendäre Lisbeth Dorowski sein, als Tänzerin »Luna Dorow« trat sie im Clärchens auf und sorgte zwischen 1919 und 1926 für Furore. Trotz aller Eleganz waren die 1920er-Jahre von großen gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen geprägt.

Der Name ist eine Anspielung auf eine Tänzerin aus den 1920ern.

Mit seinem ambitionierten Restaurant-Projekt wollte Inhaber Yoram Roth einen Ort für all jene erschaffen, die gern in einem besonderen Ambiente speisen. Allerdings, ohne dabei zu tief in die eigene Tasche greifen zu müssen. Hauptgerichte gibt es bereits für unter 20 Euro. »Vor allem wollte ich einen Raum schaffen, der den Menschen auch in Zukunft noch etwas Besonderes bietet«, sagt Roth, der 1968 in Berlin geboren wurde und aus einer jüdischen Familie kommt. Heute lebt der Museumsbetreiber, Kunstkenner und Fotograf abwechselnd in Berlin und New York.

Für das besondere Ambiente des Restaurants konnte Roth den renommierten Szenenbildner Uli Hanisch gewinnen, dessen Name mit der Kriminal-Serie Babylon Berlin verbunden ist. Angesichts der nachtblau getünchten Wände mit aufgemaltem Kirschblütenmuster, der goldenen Decke und den mit rotem Samt bezogenen Stühlen und Sitzbänken erstaunt es kaum, dass sich so manch einer wie inmitten einer Filmkulisse vorkommt. Es gibt nicht viele Orte wie diesen im heutigen Berlin.

Dabei wirkt das Luna DʼOro nicht wie ein neuer Gourmet-Tempel, sondern ganz und gar so, als ob es schon immer da gewesen wäre. Als Yoram Roth Clärchens Ballhaus 2020 übernahm, hatte er eine Vision: So wie früher sollte es sein, nur ein bisschen zeitgemäßer, moderner. Vor allem wollte er einen Rückzugsort schaffen, der den Menschen eine Pause vom Alltag ermöglicht. Einen Ort, in den sich jeder hinein traut, so das Credo des Investors. Wo man neben gutem Essen anschließend noch tanzen und feiern könne.

Ein Rückzugsort vom Alltag: erst essen, dann tanzen.

Doch wie schmeckt die »typisch deutsche Küche« mit Nostalgie­faktor, modern aufgepeppt? »Ich wollte Gerichte kreieren, die zu dieser nostalgischen Umgebung passen«, sagt Küchenchef Tobias Beck. Spezialitäten, die man womöglich aus der eigenen Kindheit kennt, darunter auch solche, die man nicht unbedingt auf einer Restaurantkarte erwarten würde. Wie zum Beispiel den Tatar-Igel, der aus einem klassischen Rindertatar besteht und in Igel-Form serviert wird. Die Stacheln bestehen aus Zwiebelschnitzen, die Kulleraugen aus Kapern.

Ein essbares Kunstwerk als Reminiszenz an die Buffets der 50er-Jahre, wie eine Erinnerung an vergilbte Familien­fotos. Fast zu schade zum Verspeisen. Aber wie das schmeckt! Das liege an der feinen Note von Cognac, die unter das Eigelb gemischt wird, welches das Tatar zusammenhält, verrät der 31-jährige Küchenchef. »Natürlich muss man aufpassen, dass es nicht zu klamaukig wird«, sagt Beck. Angesichts der restlichen Speisen ist die Angst unbegründet.

Eine Karte voller Überraschungen

Beck hat es geschafft, eine Karte voller Überraschungen zu kreieren. »Und alles, was wir machen, ist regional und saisonal«, sagt Beck, der sich zuvor einen Namen durch das Kult-Restaurant »Ember« gemacht hat, in dem auf offenem Feuer gekocht wurde. »Die deutsche Küche hat so viele Facetten«, sagt Beck. Leider sei sie unterbewertet.

Wie zum Beispiel die Spreewald-Gürkchen, die gourmettechnisch betrachtet ein stiefmütterliches Dasein fristen. Im »Luna« haben sie ihren großen Auftritt: Sie werden lauwarm serviert, nachdem sie kurz in einem dünnen Teigmantel frittiert wurden. Dazu gibt es einen cremigen Dill-Dip. Ein Gericht, so unerwartet wie vertraut. Ein wohlkalkulierter Effekt, der auch auf die restlichen Gerichte zutrifft.

Das Tatar aus leicht gereiftem Saibling mit Apfel und Meerrettich auf einem Sellerie-Carpaccio ist ungewöhnlich, ein Geschmack wie Sushi mit Waldorfsalat. Schlicht, aber genial. Das Radi-Obatzda-Brot, bei dem hauchdünn gehobelter Rettich wie zu Röschen gerafft auf einer Scheibe Sauerteigbrot liegt. Als Basis eine leichte Obatzda-Schicht mit starker Paprika-Note.

Bei den Hauptgängen gibt es Fleischlastiges wie Vegetarisches. Königsberger Klopse auf sämigem Kartoffelbrei oder gebackene Austernpilze mit Petersilien-Mayo und Kartoffelsalat. Die Pilze sind fein paniert, außen kross und innen zart. Am Nachbartisch begeistern sich die Gäste angesichts des Goldbroilers, der auf einer mit Bratensaft getränkten Brotscheibe daherkommt.

Spaghetti-Eis, Sellerie-Carpaccio oder Dill-Dip. Es schmeckt schon beim Lesen.

Frei nach dem Motto: Essen macht nicht dick, es zieht nur die Falten glatt, wandert der Blick zur Dessertkarte. Zur Götterspeise aus extrahiertem Waldmeister, in einem See aus feiner Vanillesoße serviert. Die schmeckt definitiv anders als der Tüten-Wackelpudding, den es früher an Kindergeburtstagen gab. Viel feiner.

Und was hat es mit dem Spaghetti-Eis auf sich? »Eine erfolgreiche Integrations-Geschichte«, verrät Beck über die Eis-Spezialität, die in diesem Jahr ihren 55. Geburtstag feiert. Erfunden wurde sie vom damals erst 17-jährigen italienischstämmigen Dario Fontanella in Mannheim. »Meiner Geburtsstadt«, sagt Beck. Er habe etwas aus seiner alten Heimat in die neue Heimat bringen wollen.

Auch hier gibt es eine Brücke zur Vergangenheit: Spätestens ab den späten 1920er-Jahren wurde die Eisdiele in Berlin zum festen Bestandteil der gastronomischen Stadtkultur.

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