Mindestens einmal pro Woche bin ich im Jawne: Dort, wo in Köln vor dem Krieg das einzige jüdische Gymnasium des Rheinlands stand, ist heute ein Gedenk- und Lernort. Ich arbeite ehrenamtlich mit, führe Besucher durchs Haus, bereite mit den anderen Vereinsmitgliedern neue Ausstellungen vor. Mein Thema ist der Widerstand. Am Beispiel dieser Schule will ich zeigen, dass sich auch ein unbewaffneter Mensch mit Wort und Tat gegen Gewalt wehren kann.
Den Holocaust behandelt man an deutschen Schulen in der 6. oder 7. Klasse. Die Kinder sind meiner Meinung nach in diesem Alter noch zu jung, um die Tiefe dieses Themas zu erfassen. Aber ich glaube, sie finden unsere Projekte spannend: Sie sind ruhig, hören aufmerksam zu und stellen Fragen. Mein Mann ist ein geborener Pädagoge – er hat früher an einer Schule für schwer erziehbare Kinder gearbeitet. Ihm gelingt es noch besser als mir, die Schüler einzubeziehen. Er hat auch weniger Hemmungen, Deutsch zu reden, obwohl mein Wortschatz vermutlich größer ist.
Jawne Bei Jawne sind wir beide vor etlichen Jahren eher zufällig gelandet. Heute gibt es einen 15-köpfigen Arbeitskreis, und wir sind die einzigen russischsprachigen Mitglieder. Aber die Existenz dieses Gedenkorts – der einzige, der den jüdischen Kindern gewidmet ist – ist immer noch nicht endgültig gesichert.
Zurzeit bereiten wir eine Ausstellung des Werks von Ludwig Meidner vor, einem expressionistischen Maler jüdischer Herkunft. Er hat mich beeindruckt wie selten jemand. Bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte er apokalyptische Visionen, und das wiederholte sich vor dem Zweiten Weltkrieg. Als »entarteter Künstler« durfte er während der Nazizeit nicht arbeiten.
Demnächst erwarte ich hier eine Gruppe aus dem jüdischen Zentrum in Köln-Chorweiler zu Besuch. Ich persönlich lade nie Leute aus der jüdischen Gemeinde ins Jawne ein. Das ist, finde ich, zu aufwühlend. Da gibt es Ältere, die selbst im Ghetto waren, und andere haben Angehörige verloren. Das Jawne ist eine Gedenkstätte von Deutschen für Deutsche. Wir Juden werden den Holocaust ohnehin nie vergessen.
Auswanderung Von Beruf bin ich Ingenieurin. Ich habe viele Jahre als leitende Konstrukteurin in einem Institut in Kiew gearbeitet. Als wir Ende 1992 nach Deutschland kamen, hoffte ich sehr, wenn nicht als Ingenieurin, so zumindest als Technikerin oder technische Zeichnerin arbeiten zu können. Aber ausländische Abschlüsse wurden damals nicht anerkannt. Die ersten zwei Jahre fiel ich in eine Depression.
Eigentlich hatte ich überhaupt nicht nach Deutschland gewollt: Fast meine ganze Familie wurde während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis ausgelöscht. Aber dann habe ich gesehen: Die Juden kommen nicht deshalb nach Deutschland, weil sie es so lieben oder sich hier so sicher fühlen, sondern damit Hitlers Traum von einem »judenfreien« Deutschland nicht in Erfüllung geht. So habe ich zum Judentum gefunden.
Früher in der Sowjetunion waren wir alle Atheisten. Meine Großmutter war zwar religiös, aber sie hat mir nichts beigebracht. Angekommen in Deutschland, fühlte ich mich verpflichtet, etwas über meine Wurzeln zu lernen. So fing ich an, die Tora zu lesen, zunächst die Ausgabe ohne Kommentare. Ich fand das Geschriebene recht widersprüchlich. Als ich mir dann jedoch eine kommentierte Ausgabe kaufte und hineinschaute, stand plötzlich alles an seinem Platz.
Ich bewunderte damals die Gebote, die die Tora der Welt geschenkt hat, weil sie die Moral von Grund auf verändert haben. An Gott habe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht geglaubt. Das kam – alle lachen darüber –, als ich im Roten Meer tauchen war. Ich sah da eine solch unglaubliche Unterwasserwelt, eine Farbenpracht, Fische, Korallen, sodass ich dachte, das muss Gott geschaffen haben! Seitdem glaube ich an ihn, obwohl ich noch hin und wieder mit ihm hadere.
Schabbat Mein Mann und ich begehen inzwischen auch den Schabbat. Bei mir fangen die Vorbereitungen schon am Donnerstag an. Samstags gehe ich auch ins Elternheim der Gemeinde, und das schon seit 20 Jahren. Anfangs, weil die Tante einer Freundin dort lebte. Ich mochte diese Tante sehr, sie hatte eine so positive Ausstrahlung, und ich besuchte sie regelmäßig.
Mit der Zeit kannte ich immer mehr Leute im Elternheim und brachte ihnen russische Bücher mit. Dann fiel mir ein, dass die Bewohner genauso wenig über die jüdische Religion und Tradition wissen wie ich auch. Seit einigen Jahren erzähle ich ihnen über die jüdischen Feste. Natürlich sind da etliche Leute mit Demenz. Vieles vergessen sie schon am nächsten Tag. Andererseits können sie erzählen, wie sie feierten, als sie Kinder waren. Es gibt im Elternheim aber auch sehr wache Geister. Eine ehemalige Lehrerin, fast 90 Jahre alt, bereitete sich richtig auf diese Gespräche vor und brachte sich immer mit ihrem Wissen ein.
Meine Erzählungen führen durch eine Art Jahreszyklus, der mit Rosch Haschana beginnt und an Schawuot endet. Ich erzähle, stelle Fragen, und wer am besten antworten kann, bekommt Punkte. Am Ende des Jahres gibt es schöne Preise für die Gewinner. Mit Unterstützung der Leitung des Elternheims wird eine sehr feierliche Zeremonie daraus. Klar habe ich ab und zu meine Zweifel, ob sich die Mühe lohnt und etwas bei den alten Leuten hängen bleibt. Aber man hat mir immerhin versichert, dass immer mehr Bewohner bewusst den Schabbat feiern. Das ist mir ein Trost.
Bekannte In Köln haben wir keine Verwandtschaft, nur Freunde unter den Juden. Kontakte zu Deutschen klappen leider nicht so gut. Im Jawne-Arbeitskreis arbeiten wir zwar zusammen, aber ich würde das nicht Freundschaft nennen. Eher zufällig habe ich eine Deutsche kennengelernt, jetzt bringen wir uns gegenseitig die jeweiligen Muttersprachen bei. Sie und ihr Mann sind sehr sympathisch, sie sind Antifaschisten, politisch aktiv. Allerdings würde ich nicht sagen, dass wir uns privat treffen, bei uns, bei ihnen oder im Café. Wir gehen zusammen ins Kino oder zu Veranstaltungen, das ist alles.
Früher habe ich oft für Neuankömmlinge gedolmetscht. Heute ist der Bedarf nicht mehr so groß, weil weniger Leute einwandern und es mehrere russischsprachige Ärzte gibt. Jeder dieser Gänge zum Amt oder zum Arzt muss gründlich vorbereitet werden. Viele Ärzte haben keine Zeit, darauf zu warten, bis der Patient seine Beschwerden auf Russisch vorgetragen hat und ich sie ins Deutsche übersetzt habe. Das nervt ihn. Ich versuche deshalb Zeit zu sparen, indem ich die Patienten vorher frage, welche Wehwehchen sie haben und was für Medikamente sie nehmen. Das schreibe ich auf und übersetze es ins Deutsche. So hat der Arzt mehr Zeit, sich dem Kranken zu widmen.
Die Sprache habe ich erst in Deutschland im Kurs gelernt. Hundertprozentig beherrsche ich sie nicht, aber für die Probleme beim Arzt oder bei Ämtern reicht es durchaus. Manchmal begleite ich meine Freunde sogar zu russischsprachigen Ärzten, um ihnen Mut zu machen.
Mit meinem Mann, das muss ich sagen, habe ich wirklich Glück. Er ist ein guter Mensch und hilft vielen, wo immer er kann. Vor allem besteht er nicht darauf, dass ich die ganze Zeit mit ihm verbringe. So kann jeder von uns seinen eigenen Interessen nachgehen. Ich besuche zum Beispiel gern ab und zu die Oper oder Ausstellungen. Er mag das weniger. Aber er holt mich immer ab.