Porträt

»Widerstand ist mein Thema«

Anna Kogan arbeitet ehrenamtlich im Lern- und Gedenkort Jawne in Köln

von Matilda Jordanova-Duda  13.10.2014 15:08 Uhr

»Auch ein unbewaffneter Mensch kann sich mit Wort und Tat gegen Gewalt wehren«: Anna Kogan (74) Foto: Jörn Neumann

Anna Kogan arbeitet ehrenamtlich im Lern- und Gedenkort Jawne in Köln

von Matilda Jordanova-Duda  13.10.2014 15:08 Uhr

Mindestens einmal pro Woche bin ich im Jawne: Dort, wo in Köln vor dem Krieg das einzige jüdische Gymnasium des Rheinlands stand, ist heute ein Gedenk- und Lernort. Ich arbeite ehrenamtlich mit, führe Besucher durchs Haus, bereite mit den anderen Vereinsmitgliedern neue Ausstellungen vor. Mein Thema ist der Widerstand. Am Beispiel dieser Schule will ich zeigen, dass sich auch ein unbewaffneter Mensch mit Wort und Tat gegen Gewalt wehren kann.

Den Holocaust behandelt man an deutschen Schulen in der 6. oder 7. Klasse. Die Kinder sind meiner Meinung nach in diesem Alter noch zu jung, um die Tiefe dieses Themas zu erfassen. Aber ich glaube, sie finden unsere Projekte spannend: Sie sind ruhig, hören aufmerksam zu und stellen Fragen. Mein Mann ist ein geborener Pädagoge – er hat früher an einer Schule für schwer erziehbare Kinder gearbeitet. Ihm gelingt es noch besser als mir, die Schüler einzubeziehen. Er hat auch weniger Hemmungen, Deutsch zu reden, obwohl mein Wortschatz vermutlich größer ist.

Jawne Bei Jawne sind wir beide vor etlichen Jahren eher zufällig gelandet. Heute gibt es einen 15-köpfigen Arbeitskreis, und wir sind die einzigen russischsprachigen Mitglieder. Aber die Existenz dieses Gedenkorts – der einzige, der den jüdischen Kindern gewidmet ist – ist immer noch nicht endgültig gesichert.

Zurzeit bereiten wir eine Ausstellung des Werks von Ludwig Meidner vor, einem expressionistischen Maler jüdischer Herkunft. Er hat mich beeindruckt wie selten jemand. Bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte er apokalyptische Visionen, und das wiederholte sich vor dem Zweiten Weltkrieg. Als »entarteter Künstler« durfte er während der Nazizeit nicht arbeiten.

Demnächst erwarte ich hier eine Gruppe aus dem jüdischen Zentrum in Köln-Chorweiler zu Besuch. Ich persönlich lade nie Leute aus der jüdischen Gemeinde ins Jawne ein. Das ist, finde ich, zu aufwühlend. Da gibt es Ältere, die selbst im Ghetto waren, und andere haben Angehörige verloren. Das Jawne ist eine Gedenkstätte von Deutschen für Deutsche. Wir Juden werden den Holocaust ohnehin nie vergessen.

Auswanderung Von Beruf bin ich Ingenieurin. Ich habe viele Jahre als leitende Konstrukteurin in einem Institut in Kiew gearbeitet. Als wir Ende 1992 nach Deutschland kamen, hoffte ich sehr, wenn nicht als Ingenieurin, so zumindest als Technikerin oder technische Zeichnerin arbeiten zu können. Aber ausländische Abschlüsse wurden damals nicht anerkannt. Die ersten zwei Jahre fiel ich in eine Depression.

Eigentlich hatte ich überhaupt nicht nach Deutschland gewollt: Fast meine ganze Familie wurde während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis ausgelöscht. Aber dann habe ich gesehen: Die Juden kommen nicht deshalb nach Deutschland, weil sie es so lieben oder sich hier so sicher fühlen, sondern damit Hitlers Traum von einem »judenfreien« Deutschland nicht in Erfüllung geht. So habe ich zum Judentum gefunden.

Früher in der Sowjetunion waren wir alle Atheisten. Meine Großmutter war zwar religiös, aber sie hat mir nichts beigebracht. Angekommen in Deutschland, fühlte ich mich verpflichtet, etwas über meine Wurzeln zu lernen. So fing ich an, die Tora zu lesen, zunächst die Ausgabe ohne Kommentare. Ich fand das Geschriebene recht widersprüchlich. Als ich mir dann jedoch eine kommentierte Ausgabe kaufte und hineinschaute, stand plötzlich alles an seinem Platz.

Ich bewunderte damals die Gebote, die die Tora der Welt geschenkt hat, weil sie die Moral von Grund auf verändert haben. An Gott habe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht geglaubt. Das kam – alle lachen darüber –, als ich im Roten Meer tauchen war. Ich sah da eine solch unglaubliche Unterwasserwelt, eine Farbenpracht, Fische, Korallen, sodass ich dachte, das muss Gott geschaffen haben! Seitdem glaube ich an ihn, obwohl ich noch hin und wieder mit ihm hadere.

Schabbat Mein Mann und ich begehen inzwischen auch den Schabbat. Bei mir fangen die Vorbereitungen schon am Donnerstag an. Samstags gehe ich auch ins Elternheim der Gemeinde, und das schon seit 20 Jahren. Anfangs, weil die Tante einer Freundin dort lebte. Ich mochte diese Tante sehr, sie hatte eine so positive Ausstrahlung, und ich besuchte sie regelmäßig.

Mit der Zeit kannte ich immer mehr Leute im Elternheim und brachte ihnen russische Bücher mit. Dann fiel mir ein, dass die Bewohner genauso wenig über die jüdische Religion und Tradition wissen wie ich auch. Seit einigen Jahren erzähle ich ihnen über die jüdischen Feste. Natürlich sind da etliche Leute mit Demenz. Vieles vergessen sie schon am nächsten Tag. Andererseits können sie erzählen, wie sie feierten, als sie Kinder waren. Es gibt im Elternheim aber auch sehr wache Geister. Eine ehemalige Lehrerin, fast 90 Jahre alt, bereitete sich richtig auf diese Gespräche vor und brachte sich immer mit ihrem Wissen ein.

Meine Erzählungen führen durch eine Art Jahreszyklus, der mit Rosch Haschana beginnt und an Schawuot endet. Ich erzähle, stelle Fragen, und wer am besten antworten kann, bekommt Punkte. Am Ende des Jahres gibt es schöne Preise für die Gewinner. Mit Unterstützung der Leitung des Elternheims wird eine sehr feierliche Zeremonie daraus. Klar habe ich ab und zu meine Zweifel, ob sich die Mühe lohnt und etwas bei den alten Leuten hängen bleibt. Aber man hat mir immerhin versichert, dass immer mehr Bewohner bewusst den Schabbat feiern. Das ist mir ein Trost.

Bekannte
In Köln haben wir keine Verwandtschaft, nur Freunde unter den Juden. Kontakte zu Deutschen klappen leider nicht so gut. Im Jawne-Arbeitskreis arbeiten wir zwar zusammen, aber ich würde das nicht Freundschaft nennen. Eher zufällig habe ich eine Deutsche kennengelernt, jetzt bringen wir uns gegenseitig die jeweiligen Muttersprachen bei. Sie und ihr Mann sind sehr sympathisch, sie sind Antifaschisten, politisch aktiv. Allerdings würde ich nicht sagen, dass wir uns privat treffen, bei uns, bei ihnen oder im Café. Wir gehen zusammen ins Kino oder zu Veranstaltungen, das ist alles.

Früher habe ich oft für Neuankömmlinge gedolmetscht. Heute ist der Bedarf nicht mehr so groß, weil weniger Leute einwandern und es mehrere russischsprachige Ärzte gibt. Jeder dieser Gänge zum Amt oder zum Arzt muss gründlich vorbereitet werden. Viele Ärzte haben keine Zeit, darauf zu warten, bis der Patient seine Beschwerden auf Russisch vorgetragen hat und ich sie ins Deutsche übersetzt habe. Das nervt ihn. Ich versuche deshalb Zeit zu sparen, indem ich die Patienten vorher frage, welche Wehwehchen sie haben und was für Medikamente sie nehmen. Das schreibe ich auf und übersetze es ins Deutsche. So hat der Arzt mehr Zeit, sich dem Kranken zu widmen.

Die Sprache habe ich erst in Deutschland im Kurs gelernt. Hundertprozentig beherrsche ich sie nicht, aber für die Probleme beim Arzt oder bei Ämtern reicht es durchaus. Manchmal begleite ich meine Freunde sogar zu russischsprachigen Ärzten, um ihnen Mut zu machen.

Mit meinem Mann, das muss ich sagen, habe ich wirklich Glück. Er ist ein guter Mensch und hilft vielen, wo immer er kann. Vor allem besteht er nicht darauf, dass ich die ganze Zeit mit ihm verbringe. So kann jeder von uns seinen eigenen Interessen nachgehen. Ich besuche zum Beispiel gern ab und zu die Oper oder Ausstellungen. Er mag das weniger. Aber er holt mich immer ab.

Chanukka-Umfrage

»Wir brauchen das Licht«

Was für Lieblingssymbole haben Gemeindemitglieder? Und wie verbringen Familien das Fest, wenn ein Partner Weihnachten feiern möchte? Wir haben nachgefragt

von Brigitte Jähnigen, Christine Schmitt  25.12.2024

Berlin

Wenn Hass real wird

Die Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Einfluss sozialer Medien

von Alicia Rust  23.12.2024

Interview

»Wir sind neugierig aufeinander«

Amnon Seelig über die erste Konferenz des Kantorenverbandes, Lampenfieber und das Projekt Call a Kantor

von Christine Schmitt  22.12.2024

Porträt der Woche

Ein Signal senden

David Cohen ist Geschäftsführer eines Unternehmens und setzt sich gegen Judenhass ein

von Matthias Messmer  22.12.2024

Soziale Medien

In 280 Zeichen

Warum sind Rabbinerinnen und Rabbiner auf X, Instagram oder Facebook – und warum nicht? Wir haben einige gefragt

von Katrin Richter  20.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Debatte

Darmstadt: Jetzt meldet sich der Pfarrer der Michaelsgemeinde zu Wort - und spricht Klartext

Evangelische Gemeinde erwägt Anzeige wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024

Hessen

Nach Judenhass-Eklat auf »Anti-Kolonialen Friedens-Weihnachtsmarkt«: Landeskirche untersagt Pfarrer Amtsausübung

Nach dem Eklat um israelfeindliche Symbole auf einem Weihnachtsmarkt einer evangelischen Kirchengemeinde in Darmstadt greift die Landeskirche nun auch zu dienstrechtlichen Maßnahmen

 19.12.2024

Ehrung

Verdiente Würdigung

Auf der Veranstaltung »Drei Tage für uns« wurde der Rechtsanwalt Christoph Rückel ausgezeichnet

von Luis Gruhler  19.12.2024