Jetzt steht er plötzlich wieder in Berlin, der Koffer von Edgar Lax. Hellbraun, sperrig, alt wirkt er. Der Griff knarrt schon ein wenig. An einigen Stellen blättert das Leder ab. Es ist ein großes Gepäckstück. Viel zu groß für einen 15-Jährigen allein. Doch für Edgar Lax, der 81 Jahre zuvor aus Deutschland fliehen musste, mit einem Kindertransport über Holland nach England, ist der Inhalt des Koffers – Briefe, Tagebücher, Fotoalben – alles, was ihm von seiner Familie bleibt.
Jacob und Amalie Lax war es 1939 gelungen, ihr Kind zu retten. Sie selbst wurden 1943 in Auschwitz ermordet. Am Schlesischen Bahnhof sieht der Junge seine Eltern zum letzten Mal. Der Koffer steht heute symbolisch für alles, was Edgar Lax widerfuhr. Jahrzehntelang staubt er auf dem Dachboden seines Hauses in London ein, versehen mit einem Riegel des Schweigens – bis zu seinem Tod.
Zu schmerzhaft ist die Erinnerung an unbeschwerte Jahre in Berlin, zu tief das Trauma der Trennung, zu abgründig die Dimension des Verlusts. »Über all das hat mein Vater mit uns nie gesprochen«, sagt Bobby Lax. Vielmehr habe er alles darangesetzt, seiner kleinen Familie all das zu geben, was ihm selbst so brutal versagt worden war.
ZIMMERSTRASSE Der Sohn von Edgar Lax steht an diesem Mittwochvormittag vergangener Woche in der 19. Etage des Axel-Springer-Hauses in Berlin-Mitte. Gedankenverloren blickt er auf die Stadt um sich herum. In der Ferne leuchtet die goldene Kuppel der Neuen Synagoge, unten markieren Bordsteine den früheren Verlauf der Berliner Mauer. Und direkt gegenüber, in der Zimmerstraße 48 b, genau dort, wo der Medienkonzern seinen neuen Hauptsitz bauen lässt, lebten die Großeltern, die Bobby Lax nie kennenlernte.
»Das neue Verlagsgebäude gründet in den Trümmern der deutschen Geschichte.« Mathias Döpfner
Eben noch hat der 52-Jährige draußen vor dem Verlagsneubau kleine Steine in die drei Vertiefungen gelegt, in die der Künstler Gunter Demnig kurz darauf die Stolpersteine für Amalie, Jacob und Edgar Lax einlässt. Zusammen mit seiner Mutter, seinem Bruder, seiner Frau und seinen Söhnen steht Bobby Lax daneben, schaut zu, streicht den Sand von den blank geputzten Messingplatten. Es sind die ersten von 46 an diesem Tag und von insgesamt 87, die das Medienunternehmen auf den Gehwegen um das Areal für dessen frühere jüdische Bewohner installiert – als Zeichen der Erinnerung und zur Mahnung für die Gegenwart. Als Fundament für die Zukunft.
Denn »das strahlende, zukunftszuversichtliche neue Verlagsgebäude gründet in den Trümmern der deutschen Geschichte«, betont Mathias Döpfner. Für den Axel-Springer-Verlag sei die Verlegung der Stolpersteine und die damit einhergehende Recherchearbeit daher Grundvoraussetzung für die Eröffnung des neuen Hauptsitzes. »An die schrecklichen Schicksale jüdischer Opfer, die auf diesem Grundstück wohnten, erinnern die Stolpersteine – wie Widerhaken der Geschichte«, betont der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer SE. Der gerade in Deutschland wiederaufflammende Antisemitismus zeige, dass Erinnern heute wichtiger sei denn je und mit einer Verpflichtung einhergehe.
»Wir dürfen im Kampf gegen den Antisemitismus nicht bei der Erinnerung verweilen, sondern sind verpflichtet, ihm aktiv entgegenzutreten«, fordert Döpfner bei der Zeremonie, an der auch die Verlegerin Friede Springer, Kulturstaatsministerin Monika Grütters, der israelische Botschafter Jeremy Issacharoff, der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein und Zentralratsvizepräsident Mark Dainow sowie die Schoa-Überlebende und Berliner Ehrenbürgerin Margot Friedländer teilnehmen.
INITIATIVE Hier, im ehemaligen Berliner Zeitungsviertel, greift Monika Grütters den Gedanken Döpfners auf, wohnten viele der von den Nationalsozialisten verfolgten Juden. Es sei »eine wunderbare Initiative« der Axel Springer SE, genau hier Stolpersteine zu verlegen. Denn während Auschwitz zum Synonym für den Holocaust geworden sei und für den bürokratischen, mit kalter Effizienz organisierten Massenmord an den europäischen Juden stehe, gab es »eben nicht nur Auschwitz«, sagt Grütters. »Es gab unzählige Tatorte, an denen Millionen Deutsche sich mitschuldig machten durch Stigmatisierung, Demütigung, Entrechtung, Gewalt bis hin zum Mord.«
Und weiter sagt Grütters: »Das Morden war nicht abstrakt und namenlos, es war immer persönlich, es wurde von Menschen an Menschen begangen«, zitiert sie den Historiker Frank Bajohr. »An Menschen, mit denen sich Erinnerungen und Geschichten verbinden.«
Es sind die ersten von insgesamt 87 Stolpersteinen, die das Medienunternehmen auf den Gehwegen um das Areal für dessen frühere jüdische Bewohner installiert.
Nun steht Bobby Lax auf der Bühne. Die Worte von Döpfner und Grütters hallen noch nach. Hinter ihm sind Fotos an die graue Wand projiziert. Fotos aus dem Koffer. Edgar, wie er ausgelassen in die Kamera lacht. Die Mutter, wie sie ein Buch liest. Eltern und Sohn zusammen auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Zimmerstraße. Glücklich. Ihr Schicksal steht an diesem Mittwochvormittag im Zentrum der Stolpersteinverlegung, mit der der Axel-Springer-Verlag seine Zukunft verknüpft.
TAGEBUCH In den Händen hält Bobby Lax einen Tagebucheintrag seines damals 15-jährigen Vaters. »Am 30. Dezember 1938, als wir schon am Sabbattisch saßen, kam die Nachricht, dass ich am 4. Januar 1939 mit dem Transport vom Schlesischen Bahnhof nach Holland mitfahre«, liest der Sohn laut daraus vor. »Unsere Freude war unbegreiflich. Ganz langsam und doch so schnell vergingen die paar Tage mit Packen und sonstigen Vorbereitungen. Endlich Mittwochfrüh. Wir glaubten, wir seien zu früh und fuhren nachher mit der Taxe. Meine letzte Fahrt durch Berlin. Um 8.45 Uhr fuhren wir ab, etwa 100 Jungs und Mädchen. Mama fuhr weiter zum Bahnhof Zoo, um mich noch einmal auf der Fahrt zu sehen. Selbst auf dem weiter draußen liegenden Bahnsteig sah man noch winkende Menschen.«
Bobby Lax hält inne. Immer wieder dreht er sich um zu dem Jugendfoto seines Vaters. Liest aus einem Brief seiner Großmutter vor – einem von vielen –, den sie wenige Wochen vor ihrer Ermordung an den Sohn in England schrieb. Sie fragt sich, wie er wohl jetzt aussehen mag. Ist seine Stimme tiefer geworden? Aus der Ferne ermahnt ihn die Mutter, warme Socken zu tragen.
Dass er an diesem Tag den Ort besucht, an den Edgar Lax zeit seines Lebens nie zurückkehren mochte, sich an ihm sogar inzwischen ein Stück weit »zu Hause« fühlt, wie er erstaunt feststellt, ist vor allem Hans-Wilhelm Saure und Sven Felix Kellerhoff zu verdanken.
RECHERCHE n mühsamer Recherchearbeit tragen der »Bild«-Chefreporter und der Leitende Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der »Welt« seit anderthalb Jahren die jüdischen Einzelschicksale des Berliner Zeitungsviertels wie die von Amalie, Jacob und Edgar Lax zusammen. »Insgesamt 87 Schicksale konnten wir bislang klären«, sagt Hans-Wilhelm Saure, »darunter sind 48 ehemalige Bewohner, die ermordet wurden, und 39, die sich retten konnten.« Was die beiden Journalisten finden, stellen sie online, in der Hoffnung, dass sich Nachfahren von Ermordeten und Überlebenden melden. Manchmal haben sie Glück. Wie im Fall von Edgar, Amalie und Jacob Lax.
In ihren Briefen mahnt die Mutter den Sohn, warme Socken zu tragen.
Denn eines Tages steht Bobby Lax vor der Tür. Nach dem Tod seines Vaters fand er den Koffer. Schnell stand für den britisch-israelischen Journalisten fest: »Ich will seine Geschichte erzählen.« Er fährt nach Berlin, samt Kamerateam, begibt sich auf Spurensuche. Er stößt auf die Webseite des Axel-Springer-Projekts.
Spuren »Im Sommer 2019 bekam ich auf einmal einen Anruf von der Rezeption, es hätte sich jemand namens Lax gemeldet – ich war natürlich wie elektrisiert«, berichtet Hans-Wilhelm Saure. Bis dahin hatte er dank eines Dokuments von der Wiedergutmachungsbehörde lediglich herausgefunden, dass Edgar Lax in London lebte – also überlebt hatte. »Es war eine glückliche Fügung, dass Bobby Lax die Spuren seines Vaters suchte«, sagt Saure.
Seit er seine Suche begann, fühle er sich den Großeltern näher als jemals zuvor. Verstehe seinen Vater besser. Kenne nun endlich die eigenen Wurzeln, sagt Bobby Lax. Überhaupt habe er eine »vollständige Metamorphose« durchlebt, bekennt der 52-jährige Journalist – von Angst und Bedrohung hin zu Zugehörigkeit und Zuhause. Das sei nur deshalb möglich, weil Deutschland Verantwortung für seine Vergangenheit übernehme – der Staat, die Gesellschaft und Unternehmen wie Axel Springer SE.
»Ich glaube, hier ist er am besten aufgehoben.« Mit diesen Worten übergibt Bobby Lax am Ende der Veranstaltung Aubrey Pomerance vom Jüdischen Museum Berlin den Koffer. Samt Briefen, Tagebüchern und Fotoalben.