Integration

»Wer kommt da zu uns?«

Flüchtlinge treffen am Münchner Hauptbahnhof ein. Foto: dpa

Die nächsten Züge fahren in den Münchner Hauptbahnhof ein, Züge voller Flüchtlinge. 5500 werden es alleine an diesem Tag sein. Und auch wenn die meisten von ihnen mit lauteren Absichten kommen, sind die Gefühle vieler Juden angesichts der vielen Muslime, die nach Deutschland drängen, ambivalent.

»Ich habe keine Angst«, sagt Shimrit Sutter-Schreiber, 42 Jahre alt und Übersetzerin in München. Ihr »Nein« klingt bestimmt. »Aber so schnell, wie die Menschen die deutsche Sprache lernen müssen, um selbstbestimmt zu leben, so schnell muss ihnen von Anfang an klar sein, dass sie hier in einem demokratischen, egalitären Land leben.« Außerdem: »Wie viel von dem, was wir denken, beruht auf Vorurteilen? Und wir Juden wissen, was Vorurteile bedeuten, also sollten wir sie nicht haben.« Würde die Situation schwierig werden, müsse man eben nach Lösungen suchen. Dem Elend länger zusehen könne sie jedenfalls nicht. Shimrit hilft in einer Kleiderkammer mit, geht in eine Unterkunft und betreut Kinder. »Es ist einfach die Verpflichtung eines Menschen, zu helfen.«

Verständnis Nika Nudelman ist eine junge Mutter von drei Mädchen zwischen zwei und zwölf Jahren. Sie kann »irgendwie« verstehen, wenn die Leute auf die vielen Flüchtlinge ängstlich und besorgt reagieren. »Aber aus Angst darf nie Aggression werden. In unserer Nähe gibt es seit etwa einem Monat auch eine Flüchtlingsunterkunft«, erzählt sie. Und natürlich fragen ihre Kinder, »ob wir auch einmal Flüchtlinge werden können und ob sie vor diesen Menschen Angst haben müssen«.

Nika Nudelman kann sie beruhigen, »auch weil ich selbst Vertrauen in die Sicherheitsdienste in München und in Bayern habe«. Daran ändere sich nichts, auch wenn sie »ganz realistisch« davon ausgehen müsse, dass es »überall auch schlechte Menschen gibt«. Im Grunde sieht sie aber in den Flüchtlingen »Leute in wirklicher Not«, die Normalität suchen. »Als jüdischer Mensch fühlt man sich selbstverständlich mit Flüchtlingen solidarisch. Ganz Israel wurde von Flüchtlingen aufgebaut.«

Richard Volkmann, 26 und Doktorand in Jüdischer Geschichte, findet die politischen Debatten im Moment »reichlich ziel- und konzeptlos«. Er sei zwar »positiv überrascht«, welche Wende das Thema in den letzten Wochen genommen habe, »weg von brennenden Flüchtlingsheimen, hin zu Bildern von Menschen, die helfen«, trotzdem habe er das Gefühl, dass »niemand eine Idee hat, wo das langfristig hinführt«. Auf seinem Facebook-Feed finde er »alles«. Da seien die engagierten »Refugees Welcome«-Leute, die »grundsätzlich Wohlwollenden, eher Desinteressierten«, und natürlich gebe es auch einige, »die in allen Flüchtlingen IS-Schläfer sehen«.

Auch in Ostdeutschland wird den Flüchtlingen von jüdischer Seite viel Sympathie und Hilfsbereitschaft entgegengebracht. Besonders die russischsprachigen Kontingentflüchtlinge, die in den 90er-Jahren in die Bundesrepublik kamen, erinnern sich an Gefühle der Fremdheit und Unsicherheit, die sie beim Verlassen ihrer Heimat und beim Neubeginn in Deutschland empfunden haben.

spielregeln Nicht wenige Juden betonen, dass nicht nur das Aufnahmeland, das enorm viel leiste, eine Bringschuld habe. »Deutschland hat sich auf die Fahnen geschrieben, denen zu helfen, die dringend Hilfe brauchen«, konstatiert Ilja Kogan, Paläontologe an der Bergakademie Freiberg. »Das finde ich gut. Allerdings sollte der, der viel Hilfe anbietet, auch die Spielregeln bestimmen dürfen, und auch da sehe ich Deutschland in einer besonderen Verantwortung.«

Vor dem Umstand, dass viele der jetzt aufgenommenen Flüchtlinge aus Syrien kommen – einem Land, dessen Regierungen beständig feindselig gegenüber Israel eingestellt waren und sind –, werden die Augen nicht verschlossen. »Eine unmittelbare Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft oder für die deutsche Gesellschaft sehe ich nicht«, sagt Ilja Kogan. »Aber natürlich muss man sich bei so einer großen Zahl von Flüchtlingen auch dessen bewusst sein, dass möglicherweise Personen eingeschleust werden, von denen eine Gefahr ausgeht. In solchen Fällen sollte viel kompromissloser eingegriffen werden.«

Auch Ekaterina Sapega, Musikerin in Dresden, kennt die Risiken, die die Aufnahme einer derart großen Zahl von Flüchtlingen in so kurzer Zeit in sich bergen kann. Zugleich hält sie das besondere Engagement der Deutschen in dieser Situation für richtig. Kulturelle Unterschiede zwischen Einheimischen und Flüchtlingen möchte sie nicht überbetont sehen. »Schon heute leben unterschiedliche Kulturgruppen und -kreise in Deutschland, die ebenfalls nicht europäisch geprägt sind, und vieles funktioniert. Auch von den jetzt ankommenden Menschen können wir eine kulturelle Bereicherung erwarten, und ich denke, das kann die abendländische Kultur schon verkraften«, meint Sapega.

Gast und Gastgeber Weniger rosig sieht der Chemnitzer Psychiater Andrei Verbitski die momentanen Entwicklungen. »Es ist völlig legitim und notwendig, dass sich Politiker die Frage stellen: ›Wer kommt als Gast, und wer ist Gastgeber in Europa?‹ Denn es gibt einen grundlegenden Kanon an europäischen Werten, an dem es festzuhalten gilt und an dem sich alle hier lebenden Menschen orientieren müssen. Nur so wird es eine problemlose und friedliche Integration geben können. Wer die Werte von Demokratie und Freiheit ablehnt, verdient selbst keine Toleranz. Das sind keine theoretischen Überlegungen, sondern hier geht es tatsächlich um langfristige Sicherheit«, sagt Verbitski.

»Die Flüchtlinge sind Opfer einer schlechten Politik und des islamischen Extremismus«, gibt Evgeny Karchemnik aus Köln zu bedenken. »Aber sie haben auch eine andere Kultur. Unter ihnen gibt es sicherlich viele Extremisten, die die Juden hassen«, befürchtet der 75-Jährige, der die Leningrader Blockade miterlebt hat. Seine Angst will er nicht verschweigen: »Deshalb denke ich, wir werden in Europa terroristische Aktionen erleben. Nicht nur gegen Juden, auch gegen Christen.«

Untätigkeit Auch Sinovy Goldberg sieht mit der Flüchtlingswelle eher eine Gefahr aufkommen. »Meiner Meinung nach gehen so Europa und das Christentum zu Ende und zum Islam über – langsam, ohne Krieg, ohne Bomben und 11. September«, sagt der Kölner. Die Sozialarbeiterin Bella Liebermann betreut eine Roma-Familie aus Montenegro.

»Die Leute waren acht Jahre lang in einem Übergangsheim, durften weder Deutsch lernen noch ein Konto eröffnen. Es gab keine Sozialarbeit, aber Ghettoisierung und Kriminalität«, sagt die Absolventen des Studiengangs Jüdische Sozialarbeit an der Fachhochschule Erfurt über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland. »Deshalb glaube ich, dass es eine spontane, unüberlegte Idee ist, Massen von Flüchtlingen aufzunehmen. Deutschland ist zwar ein reiches Land, aber es hat keine ausgebildeten Kräfte, um diese Leute zu integrieren.«

Auch am Hamburger Hauptbahnhof kommen mittlerweile etwa 1000 Flüchtlinge pro Tag an, viele davon mit der Absicht, in skandinavische Länder weiterzureisen. Die Messehallen unweit des Grindelviertels haben sich zu einem Knotenpunkt der Hamburger Flüchtlingshilfe entwickelt. Die Jüdische Gemeinde liegt nur einen Katzensprung entfernt, das Thema Flüchtlinge spielt hier eine große Rolle.

Hilfe in Not Für den Journalisten Shlomo Almagor, der seit 25 Jahren in Deutschland lebt, befindet sich das Land gerade an einem Scheideweg: »Die menschliche Reaktion ist immer, jemandem zu helfen, der in Not ist. Die Frage ist nur, wem helfen wir da eigentlich?« Vor wenigen Jahren hätten die gleichen Menschen in Syrien noch »Tod für Israel« gerufen, es müsse sich jetzt zeigen, ob sie wirklich Feinde im Herzen oder nur von der Regierung dazu erzogen worden seien, sagt Almagor.

»Auch das jüdische Volk hat die Situation der Flucht zweimal miterlebt, beim Auszug aus Ägypten und nach dem Holocaust.« Doch Menschen, die hierherkämen, müssten bereit sein, einen Mehrwert für die Gesellschaft zu bilden und sich an die Gegebenheiten anzupassen. »Ob die derzeitige Politik ein riesiger Fehler oder eine große Rettung war, wird sich erst in der Zukunft zeigen«, sagt Almagor.

Die Hamburgerin Michal Hirsch kritisiert vor allem die Berichterstattung zur Flüchtlingskatastrophe. Sie fragt sich, warum nicht mehr über die zu erwartenden Probleme berichtet wird, und meint, dass »über 90 Prozent der Flüchtlinge Männer im Alter zwischen 20 und 40 und Muslime« seien. Ihr Mitgefühl gilt vor allem den Flüchtlingskindern, sie hat selbst schon Kinderkleidung und -schuhe gespendet. Doch die »hoch emotionale Mischung« aus brennenden Flüchtlingsheimen, Willkommensfeiern und sich füllenden Moscheen hält Michal Hirsch für sehr brisant.

Mitarbeit: Matilda Jordanova-Duda und Moritz Piehler

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