Porträt der Woche

Wenn sie die Muse packt

Renée Nass hat Architektur studiert. Seit ihre Kinder aus dem Haus sind, malt sie

von Philipp Peyman Engel  20.09.2010 18:46 Uhr

»Die Entscheidung, mich voll und ganz der Kunst zu widmen, habe ich nie bereut«: Renée Nass (60) in ihrem Atelier Foto: Alexandra Umbach

Renée Nass hat Architektur studiert. Seit ihre Kinder aus dem Haus sind, malt sie

von Philipp Peyman Engel  20.09.2010 18:46 Uhr

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, heißt es in Jean Pauls Roman Die unsichtbare Loge. Dieser Satz ging mir durch Mark und Bein, als ich ihn vor Kurzem zum ersten Mal las. Ich war nach seiner Lektüre regelrecht erschüttert. Als habe der Dichter diesen Satz nur für mich geschrieben. Treffender jedenfalls hätte ich nicht zum Ausdruck bringen können, was mir die Erinnerung an frühere Zeiten bedeutet. Nicht, dass mein heutiges Leben langweilig oder gar traurig wäre. Im Gegenteil. Ich führe ein ganz und gar erfülltes und glückliches Leben. Und dennoch: Die Erinnerung an meine Kindheit ist etwas ganz Besonderes. Ich hüte sie wie einen kostbaren Schatz.

Und je älter ich werde, desto klarer und eindrücklicher kehrt die Erinnerung an vergangene, scheinbar längst vergessene Szenen zurück. Dieses Phänomen gehört zu den eher raren Vorzügen des Älterwerdens. Gern denke ich an meine Kindheit in Temeswar zurück. Diese Stadt im Westen Rumäniens war, als ich dort aufwuchs, noch sehr geprägt vom österreichisch-ungarischen Kaiserreich. In Temeswar gab es eine große jüdische Gemeinde mit sechs Synagogen, drei davon sind heute noch erhalten. Die Stadt war sehr reich, es wohnten dort viele Kaufleute. Mein Vater hingegen arbeitete als Tanzlehrer. Wir lebten also in eher bescheidenen Verhältnissen.

Rumänien Meine Kindheit war ein Multikulti-Fresko, wie es im Buche steht. Wir wohnten Tür an Tür mit Menschen aus Bessarabien, Ostmoldau, Bulgarien, Ungarn, Serbien und Griechenland. Mit manchen Nachbarn unterhielten wir uns auf Rumänisch, mit anderen auf Russisch, Ungarisch oder Deutsch. Und untereinander sprach meine Familie entweder Hebräisch, Jiddisch, Deutsch, Rumänisch oder ein Gemisch aus allem. Die verschiedenen Einflüsse haben mich sehr geprägt. Bei uns zu Hause war alles sehr offen. Die Küche, die Sprache, die Ansichten – alles war gemischt.

Mein Vater war ein klassischer Drei-Tage-Jude. Pessach, Rosch Haschana und Jom Kippur – das waren die einzigen Male im Jahr, an denen er in die Synagoge ging. Meine Mutter hat deutsche und ungarische Vorfahren, sie ist keine Jüdin. Eine solche Ehe war damals nicht gang und gäbe, doch Liebe kennt ja bekanntlich keine Grenzen.

Sie haben sich in Rumänien stets sehr wohlgefühlt, doch durch das Ceausescu-Regime bekam diese heile Welt zunehmend mehr Risse. Meine Mutter litt darunter, dass wir in einer sehr kleinen Wohnung lebten. Da mein Vater nicht Mitglied der Partei war, gab es keine Möglichkeit, unsere Lebenssituation zu verbessern. Ohnehin hätte man meinem Vater niemals gestattet, in die Partei einzutreten. Der Antisemitismus in Rumänien war damals stark ausgeprägt. Meine Mutter sah schließlich keinen anderen Ausweg als auszuwandern. Darüber bin ich noch heute glücklich. Mich überkommt Ohnmacht und blanke Wut, wenn ich im Fernsehen Dokumentationen über die Gräueltaten Ceausescus sehe.

Obwohl meine Eltern wussten, dass es richtig und notwendig war, Rumänien zu verlassen, fiel ihnen dieser Schritt unendlich schwer. Insbesondere mein Vater ist mit dem Herzen ewig in Temeswar geblieben. Aber es gibt Situationen im Leben, wo etwas unwiederbringlich vorbei ist. Das ist oft sehr schmerzhaft, aber noch schmerzhafter wäre es, wenn man sich diese Erkenntnis nicht eingestehen würde.

Und so meine ich es überhaupt nicht gefühllos, wenn ich sage, dass ich keine Heimat habe. Es ist lediglich eine Feststellung. Denn die sogenannte Heimat existiert nur noch im Land meiner Erinnerungen. Das heutige Temeswar ist nicht mehr der Ort, den ich einst so liebte. Wie jeder Immigrant bin ich dort zu Hause, wo ich gerade lebe. Und das ist, seit meinem sechzehnten Lebensjahr, eben Aachen und Köln.

Meine ersten Eindrücke von der Bundesrepublik waren nicht positiv. Noch heute fehlt mir hier jene Wärme und Spontaneität, wie ich sie in Israel so genieße. Ich bedauere es manchmal, dass wir nicht da hingezogen sind. Gern hätte ich dort ein bewusstes jüdisches Leben geführt. Ich finde traurig, dass es Kindern, die nur einen jüdischen Vater haben, in Deutschland so schwer gemacht wird, am Gemeindeleben teilzuhaben. Auch wenn ich nach der Halacha nicht jüdisch bin, begreife ich mich als Jüdin. Durch meinen Vater und meine Großeltern fühle ich mich zumindest nicht weniger jüdisch als jene Menschen, die nur auf dem Papier, nicht aber im Herzen jüdisch sind. Ist jemand, der wegen seines Ehepartners zum Judentum übertritt, tatsächlich jüdischer, als ich es bin?

Leerstelle Meine ersten Jahre in Deutschland waren vom Lernen geprägt. Ich besuchte das Gymnasium, machte Abitur und studierte dann Architektur. Das war der perfekte Beruf für mich: Während mein Mann als Arzt arbeitete, zog ich unsere beiden Kinder groß und konnte darüber hinaus trotzdem freiberuflich arbeiten. Als unser Sohn und unsere Tochter dann älter wurden, galt es, in meinem Leben eine gewisse Leerstelle zu füllen. Das war der Moment, in dem ich anfing, wieder zu malen. Mir fiel auf, dass jeder zweite Volkshochschulabsolvent Bilder von sich ausstellte. Was die können, kann ich erst recht, sagte ich mir. Denn in Rumänien hatte ich immerhin eine spezielle Schule für künstlerisch begabte Kinder besucht und wäre, wenn wir nicht ausgewandert wären, staatlich anerkannte Kunstlehrerin oder gar Künstlerin geworden.

Schon damals malte ich für mein Leben gern. Da wir kein Geld für Papier hatten, kritzelte ich alle Tapeten unserer Wohnung voll. Meine Mutter liebte das. Je größer ich wurde, desto höher – und nicht zuletzt auch schöner – wurden meine Zeichnungen.

Freiheit Die Entscheidung, mich wieder voll und ganz der Kunst zu widmen, habe ich nie bereut. Wenn ich nachts an einem Porträt oder Stillleben arbeite, scheint das Leben für einige Zeit Pause zu machen. Da bin ich dann ganz bei mir. Es gibt keine Anrufe, keine überraschenden Besuche, keine Verpflichtungen. Während tagsüber mein Kopf mit Rechnungen und anderen profanen Dingen beschäftigt ist, kann mein Herz nachts flattern und machen, was es will.

Und doch, etwas Schönes zu kreieren, ist und bleibt harte Arbeit. Die berühmte Anekdote von Michelangelo ist bekanntlich nur ein Mythos. Als er gefragt wurde, wie es ihm gelungen sei, einen großartigen Marmorlöwen zu schaffen, soll er geantwortet haben: »Ich habe einfach alles weggehauen, was nicht Löwe war.«

Wenn es doch nur so einfach wäre! Manchmal gehe ich wochenlang mit einer Idee für ein Bild schwanger, fange an zu malen und scheitere dann doch immer ein ums andere Mal. An dieses Gefühl der Frustration gewöhne ich mich wohl nie. Als würde ich mit jedem neuen Bild noch einmal bei null anfangen. Aber dann, ganz unvermittelt, meistens kurz vor dem Einschlafen, packt es mich auf einmal, und alles passiert wie von allein. Es kann mir dann gar nicht schnell genug gehen, wieder zurück in mein Atelier im Keller des Hauses zu kommen.

Mein Mann kennt das inzwischen schon. So ist das mit der Kunst. Wenn die Muse kommt und sich das Tor der Inspiration öffnet, muss man schnell hindurchgehen. Nicht selten schließt es sich wieder, schneller, als einem lieb ist. Es ist wie auch sonst im Leben: Wenn das Schicksal dir ein Geschenk machen möchte, sollte man besser nicht zögern.

Aufgezeichnet von Philipp Engel

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