Fitness

Wenn der Rebbe rennt

Sonntagmorgen im Schlosspark Pankow im Norden Berlins. Es ist kalt: minus zwei Grad. Die Sonne erzeugt ein winterlich fahles Licht. Die Wiesen sind weiß vom Raureif. Noch gehört der Park den Joggern, den Walkern und den Hundebesitzern. Die Flugzeuge dröhnen beim Landeanflug auf Tegel über diese wenigen Passanten hinweg.

Einer von ihnen ist Shlomo Afanasev, im Zivilberuf Rabbiner der neu gegründeten Gemeinde Kahal Adass Jisroel und am Rabbinerseminar zu Berlin Dozent für Halacha. »Sunday is Runday«. Drei Stunden hat er frei. Seine Frau kümmert sich um die zwei Jungen und zwei Mädchen zu Hause, damit sich Shlomo auf die Rennen vorbereiten kann. Am nächsten Sonntag will er am Plänterwaldlauf teilnehmen, 20 Kilometer unter 1:25 laufen. Ein ambitioniertes Ziel für einen Freizeitsportler, der erst seit einem Jahr wirklich gezielt trainiert.

tipps »Wenn ich bei einem Wettkampf antrete, dann möchte ich auch mein bestes Können zeigen«, sagt der 35-jährige Familienvater. So haderte er auch ein klein wenig mit sich, den Berlin-Marathon nicht in drei Stunden und 15 Minuten geschafft zu haben. Drei Minuten musste er draufpacken, aber das bedeutet nur, es das nächste Mal besser zu machen. »Man darf sich von Misserfolgen oder einfach von schlechteren Läufen nicht irritieren lassen«, sagt er. Und das gilt nicht nur für ihn selbst, Afanasev meint damit auch Freunde – unter ihnen Rabbiner –, die er schon zum Laufen motiviert hat. »Man muss sich selbst vertrauen« ist eine weitere Maxime, der er folgt.

Dabei grinst Afanasev und meint: »Na, wenn man mir vor zwei, drei Jahren gesagt hätte: ›Du läufst Marathon!‹, dann hätte ich denjenigen für verrückt erklärt.« Aber Schritt für Schritt hat er sich herangetastet. Hohe Ziele setzen, aber diese geduldig und ruhig angehen. Das ist ein weiterer Tipp von ihm.

Auch in seinem Leben hat er es so gehalten. Der 1981 im usbekischen Taschkent geborene Afanasev kam 2002 mit seinen Eltern nach Deutschland. In Leipzig kam er mit dem Judentum »näher in Kontakt«, wie er es ausdrückt. In Taschkent hatte er bereits ein Studium der Ökonomie begonnen – nicht seine erste Wahl, aber es sei irgendwie nur Medizin oder eben Wirtschaft infrage gekommen. »Und da ich mit Blut nicht kann, wurde es Wirtschaft.«

gemeindetag Für ihn war das dennoch keine verlorene Zeit. Das Wissen über Strukturen und Konzepte kann er heute gut anbringen: als Lehrer, beim Laufen und erst recht bei der Organisation seiner Familie. Beim Gemeindetag des Zentralrats ist Afanasev für die Kaschrut zuständig, auch da muss er managen. »Es ist sehr viel zu tun, die Küchen zu kaschern und alle Mitarbeiter darauf einzustimmen und mit koscherem Essen vertraut zu machen«, sagt Afanasev. Es wird zwei Maschgichim geben, die von vier weiteren Helfern unterstützt werden. Eine fleischige und eine milchige Küche sowie eine gesonderte Patisserie müssen hergerichtet werden. Am Montag haben die Vorbereitungen angefangen, für die er vier Tage veranschlagt hat.

Im Vorfeld gab es bereits fünf Treffen mit den Hotelangestellten und mit Beatrice Loeb, die sich für den Zentralrat um das Eventmanagement kümmert. Als es um den Dienstplan für den kommenden Sonntag ging, winkte Afanasev ab: »Da kann ich nicht, da laufe ich im Plänterwald.« Lachend erzählt er: »So ist überhaupt die Idee geboren, beim Gemeindetag ein Sportprogramm anzubieten. Frau Loeb fragte mich spontan, ob ich das nicht übernehmen könnte. Jetzt bin ich gespannt, wer und wie viele dabei mitmachen werden.«

adrenalin Die Lauftermine sind am frühen Morgen angesetzt: 6 Uhr 30. Dann könne man 40 bis 50 Minuten laufen, anschließend duschen und wahlweise zum Morgengebet oder zum Frühstück gehen, sagt Afanasev pragmatisch. Seine Augen funkeln, er scheint sich darauf zu freuen.

Ohnehin ist er voll dabei, wenn es um diese Sportart geht. Ob Laufanzüge, die richtige Uhr oder die Wahl des passenden Schuhwerks. »Ich bin jetzt in einer Gruppe, die verschiedene Schuhe testet, und bekomme eigentlich fast regelmäßig welche zum Ausprobieren zugeschickt«, erzählt er. Neun Paar hat er schon zu Hause. Dass er sich beim Marathonlauf die Fersen blutig gescheuert hat, sei nicht Schuld der Schuhe gewesen. Die Socken waren zu kurz und an der Ferse in den Schuh gerutscht, sodass er sich an der Kante die Hacke aufgerieben hat. »Bei so viel Adrenalin hat das auch gar nicht wehgetan. Mein Glück, dass ich das nicht gesehen habe«, weiß der joggende Rabbiner. Er kann doch kein Blut sehen.

Dass er überhaupt mit dem Laufen begonnen hat, schiebt er auf seine Pfunde, die er nach und nach auf seine Hüften gepackt hatte. »Als Rabbiner bewegt man sich nicht viel, und das Essen schmeckt.« Da wollte er die Reißleine ziehen. »Ich wollte einfach etwas fitter werden, und das Abnehmen kam dann von allein.« So tauschte er in den dreieinhalb Jahren Anzuggröße 54 mit 48 und fühlt sich sehr wohl. Seine Ernährung habe er nicht umgestellt: »Das ist ja das Schöne beim Laufen, man kann viel essen.« Wenn er das sagt, huscht wieder ein leichtes Grinsen über sein Gesicht.

Meditativ Laufen hat für Afanasev auch etwas zutiefst Meditatives. »Vor wichtigen Vorträgen oder Predigten laufe ich gern.« Oder er entwerfe im Geiste schon sein Referat. »Das lenkt enorm ab und löst Verkrampfungen.«

Überhaupt ist Afanasev davon überzeugt, dass Laufen etwas sehr Jüdisches ist. Eine entsprechende Talmudstelle habe er dazu zwar noch nicht gefunden, aber er fühle es ganz deutlich. Seine dunklen Augen blitzen dabei fast schalkhaft.

Bei seiner Ordination vor sechs Jahren trug Afanasev noch eine Brille. Minus fünf Dioptrien, ohne Brille habe er gar nichts gesehen, Kontaktlinsen vertrug er nicht, und er entschloss sich, seine Augen lasern zu lassen. »Ein vollkommen neues Sehgefühl«, erzählt er. Dabei hält er seine Hände wie Scheuklappen an die Schläfen, um so sein Sehfeld zu beschreiben. Dann nimmt er die Hände weg und bewegt den Kopf nach rechts und links, um zu signalisieren: So weit kann ich jetzt sehen, ein absoluter Gewinn an Lebensqualität. »Da habe ich mein Geld gut investiert«, freut er sich. Nie wieder Brille, die beim Schwitzen immer beschlug, sodass er sie stets wieder putzen musste, um weiterzukommen – auch während des Laufens.

schlösserlauf So gewappnet kann er die nächsten Herausforderungen angehen. Der Halbmarathon ist 2017 das erste Highlight. »Zwei Tage nach dem Lauf in diesem Jahr habe ich mich für den nächsten angemeldet. Wenn man unter den ersten 5000 ist, kostet es nur 30 Euro«, verrät er. Sein Startplatz ist also gesichert, dann werden noch der Schlösserlauf in Potsdam, der Mercedes-Benz-Halbmarathon, die Big 25 und und und dazu kommen.

Den Berliner Marathon 2017 werde er jedoch nicht laufen können. »Der ist ein Tag nach Rosch Haschana, und das ist ein Fastentag, das traue ich mir dann doch nicht zu.«

Ein wirkliches Laufidol habe er nicht, sagt Afanasev. Aber über einen Weltklasseläufer, den Amerikaner Galen Rupp, spricht er voller Hochachtung. »Der ist eine Woche, nachdem er bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro über 10.000 Meter Fünfter wurde, den Marathon gelaufen und wurde dort Dritter. Wahnsinn.«

schweinehund Afanasev selbst setzt sich bei seinen Wettkämpfen jeweils ein zeitliches Ziel und informiert sich über Trainingspläne im Internet. Die langen Läufe in der Vorbereitung bestreitet er meist allein, für die Steigerungsläufe schließt er sich gern seinen jüdischen und nichtjüdischen Laufpartnern an. »Da möchte ich mich an schnelleren Läufern orientieren, um nicht zu früh dem inneren Schweinhund anheimzufallen, und mich motivieren zu lassen.«

Ohne seine Frau wäre sein Wochenpensum von durchschnittlich 65 Kilometer nicht möglich. »Am Anfang hat sie ja noch etwas skeptisch geguckt, aber jetzt unterstützt sie mich voll und ganz. Wenn ich mit meinem Lauf nicht zufrieden war, sagt sie: ›Das war doch toll, das ist klasse.‹« Sie hält Afanasev den Rücken frei und versorgt vor allem am Sonntag die Kinder. Dann ist er nämlich auf langer Tour: Jeden zweiten Sonntag nimmt er sich 30 Kilometer vor.

Familie »Das ist keine leichte Aufgabe«, bedankt er sich bei seiner Frau. »Die beiden Jungs Elijahu (7) und Jakov (5) sind sehr aktiv. Wenn das Wetter schlecht ist und sie nicht nach draußen können, ist das eine schwere Arbeit, sie bei Laune zu halten.« Damit das doch gelingt, hat Papa Afanasev ein probates Mittel: laufen. Die Jungs halten fünf Kilometer durch, zwar langsam, aber immerhin. Die beiden Mädchen Leah (9) und Miriam (fast 3) hingegen seien viel ruhiger. Die ältere Tocher beschäftige sich ohnehin allein, die jüngere setzte sich gern in die Ecke und spielt, erzählt Afanasev.

Er selbst sei eigentlich auch eher wild gewesen, muss er zugeben, eine Narbe über der linken Augenbraue rührt daher. Die habe er sich als Fünfjähriger eingefangen. Jetzt sei er sehr viel ruhiger, wozu auch das Laufen beitrage.

Zehn Kilometer ist er an diesem Sonntagmorgen schon gelaufen, weitere zehn sollen es noch werden: Er laufe nach der Maxime »Halbmarathon für die Gesundheit, Marathon fürs Ego«, drückt auf seine Uhr und joggt weiter.

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