Musik ist für mich ein Lebenselixier. In meiner Kindheit im weißrussischen Mogilov wurde zu Hause viel am Tisch gesungen, auch auf Jiddisch. Ich habe zeitig meine Liebe fürs Klavier entdeckt, und nach der Schule gab es eigentlich nur ein Ziel: Musik zu studieren. 1973 hatte ich mein Diplom als Chorleiterin und Gesangslehrerin in der Tasche und bekam eine Stelle an der Kunstschule in Orscha, einer mittelgroßen Stadt in Weißrussland.
Genau 30 Jahre habe ich dort gearbeitet, musiziert, gelehrt und auch gelernt. Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich mein sowjetisches Arbeitsbuch in die Hand nehme: Ich finde darin nur eine einzige Arbeitsstelle. Ja, so etwas gab es tatsächlich. Alles war geregelt, zumindest erweckte es den Eindruck. Trotzdem haben mein Mann und ich mit den Jahren immer mehr Entfremdung von dem Land gespürt. Das war ein schleichender Prozess, und auch der Alltag wurde immer komplizierter. 2003 haben wir unsere Koffer gepackt und sind nach Deutschland ausgewandert.
Abschied Heute könnte ich mir kaum vorstellen, in Weißrussland zu leben. Trotzdem hat der Abschied wehgetan. Der Poet Alexander Mezhirov, der selbst nach Amerika emigriert ist, hat einmal gesagt: »Du kannst die Heimat hassen, mit Steinen nach ihr werfen, aber die Liebe dorthin, die geht einfach nicht weg.« Da ist viel Wahres dran. Jetzt leben einige Verwandte von uns in Kalifornien, andere in Minneapolis, aber wir selbst haben Deutschland gewählt. Hier, meinten wir, haben unsere Kinder die besten Perspektiven.
Von vornherein stand fest, dass die Familie nur gemeinsam geht. Unser Sohn Boris und unsere Eltern kamen 2003 gleich mit. Anderthalb Jahre später folgte unsere Tochter Ina mit ihrer Familie. Sie hat nach der Ankunft sofort einen deutschen Abschluss als Krankenschwester nachgeholt und arbeitet jetzt in einem Geriatrie-Zentrum in Bremerhaven.
Von dort zu uns nach Chemnitz ist es beschwerlich weit, und so sehen wir uns leider nicht häufig. Mit unserer fast 9-jährigen Enkelin Mascha würden wir natürlich gern mehr Zeit verbringen. Boris studiert in Leipzig Altorientalistik. Da wird ihm viel abverlangt, er muss Hebräisch lernen, Babylonisch, Aramäisch. Vergangenen Sommer war er für einige Wochen bei Ausgrabungen in Israel, das fand er sehr inspirierend.
Mein Mann und ich sind hier in Deutschland auf größere Hürden gestoßen als unsere Kinder. In Chemnitz habe ich rasch begreifen müssen, dass hier niemand auf zusätzliche Musikpädagogen wartet. Aber einfach nur zu Hause sitzen – das war eine Horrorvorstellung. Der Deutschkurs bildete anfangs eine gute Überbrückung.
Aber danach wollte ich endlich Aufgaben sehen, Menschen treffen, streiten, lachen, weinen – und singen. Verglichen mit manchen Bekannten hatte ich Glück. Denn eigentlich saß ich keinen einzigen Tag untätig zu Hause. Irgendetwas hat sich immer ergeben, das konnte eine ehrenamtliche Arbeit oder ein Ein-Euro-Job sein. Und später war es die Musik, die mich gerettet hat.
Konzert Noch im Jahr unserer Ankunft haben wir die Chemnitzer Jüdische Gemeinde kennengelernt. Ich war überglücklich, dass es da einen Chor gab, dort tummelte sich die halbe Sowjetunion. Ich habe gleich mitgesungen, mitorganisiert und sehr bald die Leitung übernommen. Im Dezember 2004 haben wir unser erstes Chanukka-Konzert gegeben. Seitdem feiern wir das wie einen kleinen Geburtstag.
Um einen Chor gut zu führen, reicht Musikalität allein nicht aus. Egal ob man mit Profis oder Laien arbeitet, man trifft auf starke Persönlichkeiten, unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen. Man muss lernen, sich zu behaupten. Am Anfang hatten wir das Problem, geeignete Lieder und Werke zu finden. Inzwischen haben wir rund 70 Stücke, die man alle einstudieren könnte.
Wichtig ist immer das Werk selbst – wie wir es vortragen, was es uns sagt und wer damit erreicht werden soll. Wir proben zweimal pro Woche im Gemeindezentrum. Unser Chor heißt »Shir Semer«, das bedeutet etwa »Lied der Melodie«. Unsere Frauen und Männer singen leidenschaftlich, beinahe fanatisch gern. Viele sind bereits etwas älter. Ich hoffe, dass in den nächsten Jahren ein paar Jüngere dazukommen.
Wenn unsere Proben gut laufen, haben sie etwas Befreiendes. Manchmal ist es aber auch nur anstrengend. Doch unsere Auftritte entschädigen uns für alles. Zuallererst sind wir für die Gemeinde da, aber eben nicht nur. Im letzten Jahr hatten wir 17 Auftritte, davon sechs größere mit ganzen Werken. Regelmäßige Einladungen bekommen wir auch von den umliegenden Kirchengemeinden. Meist gibt es dort einen sehr freundlichen Empfang und manchmal sogar Standing Ovations.
Pflege Meine Familie zeigt viel Verständnis für meine musikalische Leidenschaft. Mutter ist inzwischen Witwe, hat das 84. Lebensjahr erreicht und wohnt ein Stockwerk unter uns. Ihr Augenlicht hat sich stark verschlechtert. Es fällt ihr schwer, aus dem Haus zu gehen oder kleine Einkäufe zu erledigen. Ihren Schriftverkehr kann sie gar nicht mehr bewältigen, und mittlerweile bekommt sie bestimmte Pflegeleistungen. Wir schauen täglich nach ihr, besorgen die Wäsche, versuchen, sie für kleine Unternehmungen zu begeistern.
Manchmal gelingt uns das ganz gut. Es gibt aber auch Zeiten, in denen ich an die Grenzen meiner Belastung stoße. Dann brauche ich Entspannung und Rückzugsräume. Ich schnappe mir Bücher und vergesse für ein paar Stunden die Welt um mich herum. In unserer Gemeindebibliothek finde ich unterhaltsame Belletristik. Mich bauen aber auch gute Gespräche mit Verwandten und Freunden auf, selbst per Skype oder Telefon. Ich gehöre nicht zu jenen Musikern, die sich auch in der Freizeit an Konzerten und Gastspielen berauschen. Allerdings sehe ich mir sehr gern zu Hause eine DVD mit einer Opernaufführung an.
Spiritualität Mein Mann Arkadij, den ich mit 20 Jahren geheiratet habe, ist Ingenieur. In seinem Beruf hatte er hier in Deutschland keine Chance, aber zu Hause repariert er alles. Er hat inzwischen wieder Zugang zur jüdischen Tradition – so stark, dass er mittlerweile in der Gemeinde Schabbat-Feiern leitet und Vorsitzender der Kultuskommission ist. Religion und Tradition sind bei uns nun öfters auch ein Familienthema. Niemand tut dann so, als hätte er den Stein der Weisen.
Einig sind wir uns aber darin, dass jeder vernünftig denkende Mensch die Existenz Gottes akzeptieren sollte und damit auch Respekt und Gottesfurcht entwickelt. Was man daraus im Alltag macht, ist jedem selbst überlassen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die regelmäßig beten. Aber auch unsere Chorauftritte haben eine Spur von Spiritualität. Häufig beginnen wir mit Gesängen wie »Osseh Schalom« und »Adon Olam«. Am Konzertende singen wir »Avinu Malkenu« und wenn der Applaus sich beruhigt hat, kann noch »Hava Nagila« folgen.
Ich fühle mich zunehmend wohl in Chemnitz, auch wenn das kein Gefühl von Heimat ist. Vieles im Leben lässt sich hier leichter, überschaubarer und einfacher organisieren als in Weißrussland. Aber manche Dinge bleiben uns fremd, und mit Einheimischen haben wir noch keine engeren Freundschaften geschlossen. Ohne die jüdische Gemeinde würde uns etwas ganz Wesentliches fehlen. Wie das einmal bei unseren Kindern aussehen wird, kann ich nicht abschätzen. Aber ich hoffe natürlich, dass sie und die Enkel die Musik und den Gesang nicht verlernen werden.
Aufgezeichnet von Olaf Glöckner