Für Stephan Probst, den stellvertretenden Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld, kam der Zuspruch überraschend. Hauptberuflich leitender Oberarzt für die onkologischen und palliativmedizinischen Stationen am Klinikum Bielefeld, hatte er zusammen mit der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und seiner Gemeinde am vergangenen Freitag zu einem Seminar über »Jüdische Perspektiven auf das Ende des Lebens« eingeladen.
»Ursprünglich hatte ich nach einem Seminar für mich gesucht, um ethische, philosophische und halachische Fragen zum Prozess des Sterbens auch in einem jüdischen Rahmen diskutieren zu können«, erinnert er sich. Aber ein solches jüdisches Forum gab es in Deutschland nicht.
Zuspruch Ein Mangel, der offenbar von vielen empfunden wurde. So musste in der »Capella Hospitalis« des Bielefelder Klinikums Platz für 60 Interessierte – statt der ursprünglich erwarteten 20 bis 30 – geschaffen werden. Die meisten von ihnen kamen aus jüdischen Gemeinden, darunter neun Rabbiner sowie Mediziner, Pflegekräfte und Ehrenamtliche der jüdischen Sozialarbeit. Zu den nichtjüdischen Gästen gehörten der SPD-Politiker Franz Müntefering, ehemaliger Bundesminister und Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes, sowie Ärzte und Mitarbeiter von Palliativstationen.
Zur Einstimmung verteilte Probst ein 260 Seiten starkes Kompendium, das für alle Teilnehmer die wesentlichen Positionen in der Debatte zusammenfasste. Das Werk hatte der Gastgeber gemeinsam mit dem Rabbiner der liberalen Münchner Gemeinde Beth Shalom, Tom Kucera, verfasst. Es enthielt Texte der jüdischen Tradition, zeitgenössische Responsen sowie Auszüge aus belletristischen Werken, ergänzt um eine umfangreiche Literaturliste zu medizinischen, ethischen, juristischen und halachischen Aspekten.
In der Auseinandersetzung um das würdige Sterben aus jüdischer Sicht müssten Ärzte und Rabbiner zuerst anerkennen, dass das Recht, zu entscheiden, was ihre Würde ausmacht, bei jeder einzelnen Person liegt. Dazu gehöre es auch, zu akzeptieren, dass im Alltag keineswegs immer darauf geachtet werde, die eigene Würde zu wahren, sagte der Bielefelder Philosoph Ralf Stoecker.
Rechtslage Abraham de Wolf, Rechtsanwalt in Frankfurt, verwies auf die Grundrechte in der Verfassung, die sowohl die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Artikel 1) gewährleisteten als auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2:2). Eine »Pflicht zu leben« könne daraus nicht abgeleitet werden, betonte er.
Nicht zuletzt deshalb müssten Ärzte für nahezu jede Art von medizinischen Eingriffen die Einwilligung der Patienten einholen. Das bedeute auch, dass es zu respektieren sei, wenn Pflegebedürftige zuvor eindeutig verfügt hätten, ohne Bewusstsein und Heilungsperspektive weder künstlich ernährt noch beatmet werden zu wollen, weil ein lebenswertes Leben nicht mehr zu erwarten sei.
Unter den Rabbinern in Bielefeld gab es dazu unterschiedliche Auffassungen. Der Berliner Gemeinderabbiner Jonah Sievers warnte ebenso wie der Philosoph Ralf Stoecker davor, sich auf die Unterscheidung zwischen lebenswertem und -unwertem Leben einzulassen.
Beide betonten ihre Sorge, dass es vor allem der Druck der Angehörigen sein könnte, der zu solcher Art von Festlegungen führe, weil die sich von der Last eines jahrelang komatös Hinsiechenden befreien wollten. Rabbiner Kucera dagegen betonte das Recht des Einzelnen, sogar dem eigenen Leben unter bestimmten Bedingungen ein Ende zu setzen. Allerdings sei er gegen die aktive Sterbehilfe, die Tötung auf Verlangen.
Autonomie Dass diese Autonomie nicht zur traditionellen jüdischen Vorstellung vom Leben gehört, war allerdings unstrittig. Der Mensch sei aus der Perspektive der Tradition nur »Besitzer, nicht Eigentümer seines Körpers«, erläuterte Rabbiner Sievers. Er werde ihm mit der Geburt gegeben, mit dem Tod genommen und müsse in der Zwischenzeit gepflegt werden.
Allerdings hätten die Schriften der jüdischen Tradition nicht unsere heutige Apparatemedizin im Blick gehabt. Sowohl im Talmud als auch im Schulchan Aruch gehe man von einem natürlichen Sterbeprozess aus, der weder beschleunigt noch behindert werden dürfe, selten aber so lange gewährt habe, wie ihn die Medizintechnik heute ermögliche.
In unserer Zeit, so Sievers, seien die meisten rabbinischen Autoritäten deshalb einverstanden, eine medizinische Behandlung abzubrechen, wenn sie keine Aussicht auf Erfolg habe, und Schmerzen durch Morphine zu unterdrücken, selbst wenn sie das Leben des Menschen verkürzten. Ob auch die künstliche Ernährung oder die Beatmung eingestellt werden dürfen, sei allerdings strittig.
Die Mehrheit der orthodoxen Rabbiner würde das ablehnen, meinte Sievers. Unter den Nicht-Orthodoxen gebe es einige, die künstliche Ernährung für unnatürlich hielten und als Sterbehindernis begriffen. Sie wären damit einverstanden, die Maschinen abzustellen.
Suizid Ob auch ein assistierter Suizid, wie er etwa in der Schweiz oder den Benelux-Staaten erlaubt ist, unter bestimmten Bedingungen aus jüdischer Sicht vertretbar sei, blieb umstritten. Einige Seminarteilnehmer glaubten, dass eine Halacha für die heutigen Lebensumstände diese Möglichkeit einschließen sollte.
Andere verwiesen auf die Möglichkeiten der Palliativ- und Hospizmedizin, die einem Todkranken erlaubten, seine letzte Lebensphase ohne größere Schmerzen aktiv und würdig zu gestalten. Die jüdische Debatte über das Ende des Lebens hat hierzulande allerdings gerade erst begonnen.