»Über die Vorurteile der Vergangenheit aufklären heißt, gegen zukünftige Vorurteile immun machen. Auch sind zweitausend Jahre jüdischen Lebens der Erinnerung wert. Wenn diese Erinnerung gegenwärtig wird, ist neue Eintracht zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland möglich.«
Dieses Zitat liest sich wie eine aktuell ausgesprochene Mahnung angesichts des gegenwärtig immer weiter und offener um sich greifenden Antisemitismus. Doch diese Sätze sind bereits vor 60 Jahren niedergeschrieben worden. Ihr Verfasser: der Kölner Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (1917–1985).
Die Öffentlichkeit sei nur unzureichend über die Geschichte des Judentums in Deutschland informiert, bemängelte der Schriftsteller. »Diese Unkenntnis hat in der Vergangenheit die Propagierung von Vorurteilen ermöglicht. Es ist diese Unkenntnis, die heute noch die alten Vorurteile nährt.« Obwohl sich der zeitliche Hinweis »heute noch« damals wohl auf das seit 14 Jahren zurückliegende Ende der nationalsozialistischen Diktatur sowie des Massenmordes an den Juden bezog, lässt sich diese Aussage – leider – auch heute noch treffen.
Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll setzte sich für Kenntnisse über das Judentum ein.
Um einen Beitrag zu leisten, die Kenntnisse über das Judentum zum »Bestandteil des Wissens und nicht des Glaubens zu machen«, gründete Böll gemeinsam mit weiteren Vertretern der Kölner Stadtgesellschaft – unter anderem den Autoren Paul Schallück und Wilhelm Unger, dem Verleger Ernst Brücher, dem Buchhändler Karl Keller, dem Kölner Kulturdezernenten Kurt Hackenberg, dem Rundfunkredakteur Gert H. Theunissen und dem Bankier Iwan D. Herstatt – den Verein »Germania Judaica – Kölner Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums«.
Öffentlichkeit Zweck des Vereins war und ist es, die Geschichte und Kultur der deutschen Juden in der Öffentlichkeit darzustellen, Forschungen und Diskussionen zu begleiten oder zu initiieren sowie Antisemitismus zu bekämpfen. »In Zeiten, in denen der Antisemitismus wieder eine ernste Bedrohung darstellt, ist unsere zentrale Aufgabe so aktuell wie nie«, stellt Ursula Reuter fest.
Die Geschäftsführerin der Germania Judaica konkretisiert: »Informationen bereitzustellen über jüdische Geschichte und Kultur, über das historisch vielgestaltige Verhältnis von Juden und Nichtjuden und – nicht zuletzt – über Judenhass in seinen historischen und aktuellen Ausprägungen.«
Die mangelhafte Bereitstellung von Informationen war seinerzeit die Keimzelle für die Vereinsgründung. Der Universitätsbuchhändler Karl Keller war es, der die Idee für den Aufbau der Spezialbibliothek fasste, da er den Nachfragen seiner überwiegend studentischen Kunden nach Literatur über das Judentum nicht nachkommen konnte. So entwickelte er die Idee zur Germania Judaica.
Beschaffung Bei einem Vortrag im vergangenen Jahr ordnete der Düsseldorfer Judaistikprofessor Stefan Rohrbacher das Engagement des Buchhändlers nochmals in den Kontext der damaligen Zeit ein: »Solche Bücher, in deutscher Sprache, gab es in der Bundesrepublik der mittleren und späten 50er-Jahre kaum, fremdsprachige Titel waren schwer ausfindig zu machen und noch schwerer zu beschaffen.«
Mit 65.000 Titeln ist die Germania Judaica eine der größten wissenschaftlichen Bibliotheken Europas zur Geschichte des Judentums.
Heute ist die Germania Judaica mit etwa 65.000 Titeln eine der größten wissenschaftlichen Bibliotheken Europas zur Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Juden. Unter den insgesamt rund 100.000 Medieneinheiten befinden sich auch zahlreiche jüdische Zeitschriften und Zeitungen, von denen viele für das Projekt »compactmemory« digitalisiert worden sind.
Ein besonderer Schatz sind auch die vielen Gemeindeblätter aus der Zeit nach 1945, die über die Entwicklung des jüdischen Lebens nach dem Holocaust Auskunft geben.
Forschung Die Stadtverwaltung unterstützt den Verein mit einem jährlichen Zuschuss von 180.000 Euro. Der Beginn der mittlerweile weltweit vernetzten Einrichtung – unter anderem gibt es enge Verbindungen mit der global führenden Einrichtung zur Erforschung des deutschen Judentums, dem Leo Baeck Institute London, New York, Jerusalem und Berlin – war mehr als bescheiden.
Das »Startkapital« der Bibliothek waren eine Zweizimmerwohnung, die von der Stadt zur Verfügung gestellt wurde, und 180 Bände. Dabei handelte es sich zumeist um Bücherschenkungen aus dem Ausland.
Seit 1979 befindet sich die Spezialbibliothek im dritten Stock der Kölner Zentralbibliothek. Sie ist damit also eine Bibliothek in einer Bibliothek. Manchmal verlaufen sich auch Nutzer und Besucher auf der Suche nach völlig anderen Abteilungen in den Bereich Germania Judaica. »Da gibt es immer wieder sehr überraschte, positive Reaktionen«, erzählt Ursula Reuter. »Und manch einer vertieft sich dann spontan in die Bücherregale unserer Sammlung.« Deren Schwerpunkt liegt auf der Geschichte des deutschsprachigen Judentums des 17. Jahrhunderts bis heute.
Lokalgeschichte Im Einzelnen umfasst das die Lokalgeschichte, Beiträge über jüdische Gemeinden, die Alltags- und Lebensgeschichten von Familien, Einzelpersonen oder Institutionen. Darüber hinaus gibt es Literatur zur allgemeinen jüdischen Geschichte und Kultur sowie zu Zionismus und Israel.
Wer sich mit antisemitischer Literatur befassen will, muss einen Antrag stellen.
Ein Fokus der Sammlung liegt darüber hinaus auf der Darstellung von Juden in Literatur und Film sowie auf dem Themenkomplex Antisemitismus. Dazu gehört beispielsweise das 1992 von dem Rechtsextremisten Germar Rudolf geschriebene berüchtigte »Gutachten über die Bildung und Nachweisbarkeit von Cyanidverbindungen in den Gaskammern von Auschwitz«, mit dem die Leugnung des Holocaust wissenschaftlich untermauert werden sollte.
Die offenkundig antisemitisch motivierte Darstellung wurde nach ihrer Veröffentlichung von renommierten Fachexperten detailliert widerlegt. Der Urheber wurde wegen der Veröffentlichung später zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Giftschrank »Wer sich mit antisemitischer Literatur befassen will, muss einen Antrag stellen«, erläutert dazu Ursula Reuter. Denn sämtliche antisemitische Literatur befindet sich in einem hausintern als »Giftschrank« bezeichneten Bereich. Wer auf dieses nicht frei zugängliche Konvolut oder einzelne Bände zugreifen will, »muss klar erkennbar den Grund für sein Interesse an Einheiten aus diesem Bestand darlegen und beantragen«. So sind es vor allem Hochschullehrer oder Studenten, die für ihre wissenschaftlichen Arbeiten diese spezifischen Schriften einsehen.
Zahlreiche Bände befassen sich mit dem christlich-jüdischen Dialog.
Zahlreiche Bände der Bibliothek befassen sich auch mit dem christlich-jüdischen Dialog. Darunter sind Werke von so bedeutenden Gelehrten wie Martin Buber, Ruth und Pinchas Lapide oder auch der Aufsatz »Gnade und Berufung ohne Reue«, in dem sich der emeritierte Papst Benedikt XVI. mit der christlichen Theologie des Judentums auseinandersetzt. Diese Schrift hatte bei einigen Rabbinern zu lebhaften Repliken geführt, etwa Walter Homolka aus Berlin.
Im Verlaufe dieses sehr kritischen Dialogs, der in der Germania Judaica ebenfalls dokumentiert ist, trafen sich auch Vertreter der Orthodoxen Rabbinerkonferenz mit dem einstigen Oberhaupt der Katholischen Kirche und konnten die Kontroverse einvernehmlich beilegen.
Literatur Neben ihren Aufgaben als Geschäftsführerin der Spezialbibliothek versucht Ursula Reuter, selbst möglichst viel zu lesen. Gerade befasst sie sich mit dem brasilianischen Autor Luis Krausz, desssen Großeltern 1925 aus Deutschland und Österreich ausgewandert waren. In seinem Roman Deserto beschreibt Krausz auf berührende, aber auch amüsante Weise die Unmöglichkeit, die alte Heimat Europa wiederzufinden.
Ende Oktober feierte die vom Verein der Kölner Bürger getragene Einrichtung, die weit über die Domstadt hinaus etablierte wissenschaftlich anerkannte und geschätzte Institution, ihren 60. Geburtstag. »Die Weitergabe von Zeugnissen der Geschichte und Kultur des deutschen Judentums ist und bleibt eine ebenso notwendige wie bereichernde Aufgabe und Herausforderung«, sagt Ursula Reuter.
Neben dem Zugang zum Judentum gehe es generell darum, die Bibliotheken als Ort der Forschung und Kommunikation zu stärken, betont Rachel Heuberger. Sie ist Leiterin der Judaica-Abteilung, Universitätsbibliothek JCS in Frankfurt/Main und war Festrednerin der 60-Jahr-Feier. Dabei hob sie hervor, dass Bibliotheken den digitalen Wandel mitgestalten können, weil ihnen ein Alleinstellungsmerkmal zukommt. »Die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit von Informationsquellen und Nachrichten beantworten Bibliotheken mit der Bereitstellung von weltweit geprüften Daten, sie bieten kuratiertes Wissen an.«
Germania Judaica, Zentralbibliothek, Josef-Haubrich-Hof 1. Geöffnet: Mo 10 bis 18 Uhr, Di und Do 10 bis 20 Uhr, Mi und Fr 10 bis 18 Uhr und Sa 10 bis 15 Uhr