Elke Urban steht im Carlebach-Zimmer des Leipziger Schulmuseums und hält ein Buch mit blauem Umschlag in den Händen. Der Raum ist der Carlebach-Schule gewidmet, der einzigen jüdischen Schule, die es je in Leipzig gab. Die Fußbodenkacheln bilden ein Muster aus Davidsternen, ein Schulpult steht herum, an den Wänden hängen Reproduktionen alter Fotos: Adrett gekleidete Kinder mit gigantisch großen Zuckertüten, streng blickende Lehrer, Klassenfotos.
Es sind die Kinder auf diesen Bildern, um die es in dem Buch in Urbans Hand geht. Einige von ihnen haben der Museumsleiterin Geschichten aus ihrer Schulzeit erzählt – die Schulzeit jüdischer Kinder im Leipzig des Dritten Reiches. »Tief beeindruckende Gespräche« seien das gewesen, erzählt Urban. Seit Jahren lädt die Leipziger Stadtverwaltung jüdische Bürger, die vor den Nazis fliehen mussten, ein, ihre alte Heimat zu besuchen. Dabei entstanden auch die Interviews, die Urban nun unter dem Titel Jüdische Schulgeschichten als Buch herausgegeben hat.
Koschere Würstchen »Wenn man diese Menschen kennengelernt hat, dann lässt einen das nicht mehr los«, sagt die Herausgeberin. Und sie staunt selbst, woran diese sich nach so langer Zeit noch erinnern – zum Beispiel an die Zuckertüten zur Einschulung. So weiß David Katz heute noch, dass ihm 1936 ein befreundeter Fleischereibesitzer zwei koschere Würstchen in die Zuckertüte gelegt hat.
Es sind gerade die Alltäglichkeiten, die diese Interviews so berührend machen: wie sich die Verfolgung durch die Nazis in kleinen Schritten im Leben von Kindern bemerkbar macht. Die Geschichten von Beschimpfungen auf dem Schulweg, vom erzwungenen Schulwechsel und von dem zehnjährigen Nachbarjungen, der nicht mehr zum Spielen kommen will und einer Gleichaltrigen verächtlich entgegenschleudert: »Weil Du ein Jude bist«.
Freiheit Und die Geschichten von kleinen Fluchten in Eisdielen, an die sich Thea Hurst erinnert: »Die Inhaber dieser Eisdielen waren alle Italiener, und als Italiener und Ausländer brauchten sie kein Schild an ihre Fenster zu machen: ›Juden verboten‹. Da konnte jeder rein, und irgendwie hat die Leipziger Stadtregierung das zugelassen«, erzählt die heute 85-Jährige. »Einen Nachmittag haben wir mal sämtliche Eisdielen in Leipzig ausprobiert. Da hatten wir alle einen sehr kalten Bauch.«
In evangelischer Religionslehre war Kurt Leopold Triebwasser einer der Besten. Und wie auf Kommando zitiert er in reinstem Sächsisch: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.« Das habe er jeden Morgen und Abend aufsagen müssen, erzählt er. Denn Leopold wuchs bei einer christlichen Tante auf, daher auch sein Tonfall. Mit seiner Pflegemutter sprach er nur Sächsisch. An seine Schulzeit in Leipzig erinnert er sich nur positiv. »Ich hatte nette Lehrer.« Er habe sein Judentum auch nicht vor ihnen verheimlichen müssen. Die Klassenkameraden wussten das allerdings nicht.
Hoffnungen Lange ist der 1925 Geborene unbehelligt aufgewachsen. Als Hitler die Leipziger Messe besuchte, habe er in der ersten Reihe gestanden. Heute kann er seine Begeisterung nicht erklären, aber damals? »Ich hatte gedacht, dass Hitler das Beste für Deutschland wäre und nur er etwas gegen die Arbeitslosigkeit erreichen würde.« Und als der Enkel seiner Ziehmutter, Helmut, als Mitglied des Jungvolks stets sein Fahrtenmesser mit sich herumtrug, sei er richtig »eifersüchtig« gewesen.
Doch diese Kindheit fand ein jähes Ende, spätestens mit der Reichspogromnacht, die viele noch in Leipzig erlebten. Es folgte die Flucht und oftmals Irrfahrten durch ganz Europa. Vielfach sind die Interviewten die einzigen Überlebenden ihrer Familien, andere hatten mehr Glück und blieben zusammen.
Wiedersehen Besonders tragisch ist die Geschichte von Sani Schächters Vater, der nach sechs Jahren Trennung von seiner Familie das Wiedersehen gesundheitlich nicht verkraftete: »Das Herz ist leider nicht so intelligent, dass es die Aufregung über Freude oder Kummer immer unterscheiden kann«, erzählt sein Sohn heute. »Er starb an einem Herzschlag, das kann auch vor Freude gewesen sein.«
Die Jüdischen Schulgeschichten sind nur über das Schulmuseum oder den Verlag zu beziehen. Mit dem Band soll vor allem Schülern ein Bild vom jüdischen Leben in ihrer Heimatstadt vor dem Krieg vermittelt und gleichzeitig Verständnis für die Belange von Minderheiten heute geweckt werden. Ein ergänzender Dokumentarfilm soll bis Anfang kommenden Jahres fertiggestellt werden.
Versöhnlich Das Überraschende an diesem Projekt ist aber der versöhnliche Tonfall der Interviews. Ein wichtiger Grund mag sein, dass sie in Leipzig geführt wurden. Alle Gesprächspartner sind trotz der schlimmen Erinnerungen für einen Besuch in ihre alte Heimat – und in ihre Muttersprache – zurückgekehrt. »Es war nicht leicht, diese Interviews zu filmen«, erinnert sich Urban, »die Hemmschwelle, nach 60, 70 Jahren wieder Deutsch zu sprechen, ist für viele enorm.« Aber: »Wenn sie Deutsch reden, dann mit sächsischem Akzent.«
www.schulmuseum-leipzig.de
Schulmuseum – Werkstatt für Schulgeschichte Leipzig (Hrsg.): »Jüdische Schulgeschichten. Ehemalige Leipziger erzählen«, Passage Verlag, Leipzig 2011, 364 S.