Der in Berlin geborene jüdische Regisseur Ernst Lubitsch produzierte 1942, mitten im Holocaust, seinen Klassiker To Be or Not to Be in Hollywood. In dieser bissigen Tragikomödie überlistet eine polnisch-jüdische Schauspielertruppe die Nazis und wird so Teil des Widerstands.
Die Idee, die Hamlet-Frage mit dem Schicksal der europäischen Juden zu verknüpfen, ist also nicht neu. Trotzdem gibt es auch heute kaum eine typisch jüdischere Reaktion auf antisemitische Gewalt als das Zitieren von Shakespeare. Bei der Hetzjagd von Amsterdam am 8. November sowie den vielen weiteren antisemitischen Angriffen der jüngsten Zeit erdulden wir Juden »die Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks« (Hamlet) – ausgehend von Rechts- und Linksaußen, von Islamisten und Verschwörungsspinnern – mit »edlem Gemüt«.
Wir marschieren in Solidarität, nehmen an Talkshows teil oder veröffentlichen Artikel in Zeitungen und Memes auf sozialen Netzwerken, wir appellieren an die Regierung und intellektualisieren unsere Situation.
Lippenbekenntnisse und Phrasen
Abgesehen von einigen Lippenbekenntnissen und dem mittlerweile zur brüchigen Phrase gewordenen »Nie wieder!« sind wir aber leider auf uns allein gestellt – »mal wieder«. Diese enttäuschende Erkenntnis ist keine Überraschung, sie führt allerdings zu dem Schluss, dass wir, obwohl nicht Ursache des Problems Antisemitismus, jene sind, deren Problem es ist.
Um dieses Problem effektiv anzugehen, bedarf es allerdings Mittel, die über die notwendigen und bereits bekannten langfristigen oder strategischen Maßnahmen hinausgehen. Auf einen Mob wie den in Amsterdam und seine Gesinnungsgenossen, zeigen die ewig gleichen Zyklen von TV-Dokus, die gut gemeinten Schulausflüge ins Jüdische Museum und die allgegenwärtigen Gedenkveranstaltungen gewiss keine Wirkung.
Deshalb erfordert der Kampf gegen diesen Antisemitismus die bewusste Entscheidung, aktiv und sofort zu handeln, also eine taktische Reaktion. Wer nun ein Loblied auf Viktor Orbáns radikale Maßnahmen oder die Forderung nach behördlichen Massenabschiebungen von Muslimen erwartet, wird hier enttäuscht werden. Auf muslimischen Antisemitismus mit Rassismus zu reagieren, wäre fatal. Das ist nicht das Gedankengut, um das es sich hier handelt. Und Orbáns Ungarn schafft es aus eigener Kraft, genug Antisemiten zu produzieren, ohne sie importieren zu müssen.
Direkte und unmittelbare Antwort auf Antisemitismus
Eine direkte und unmittelbare Antwort auf Antisemitismus kann auch nicht von einer Behörde veranlasst werden, denn der Aktionsraum jeder behördlichen Instanz ist immer zeitversetzt und somit indirekt. Nur wir, die Opfer selbst, sind überhaupt in der Lage, eine angemessene Reaktion zu formulieren. Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds gibt einen Hinweis, wie diese aussehen könnte: »Ich bin ganz sicher nicht hergekommen, um den Nazis Lektionen in Sachen Menschlichkeit zu erteilen … alle Hurensöhne die eine Nazi-Uniform tragen, werden sterben.«
Das ist zwar nicht Shakespeare, aber Tarantinos cineastische Vision des Nazischädel zertrümmernden Bärenjuden, der sogar Hitler Albträume bereitet, wirft ebenfalls auf anspruchsvoller Ebene eine sehr wichtige Frage auf.
Warum wehren wir Juden uns nicht? Bereits als Kind, das zum ersten Mal vom Holocaust erfuhr, stellte ich mir diese Frage. Wenn wir heute Videos sehen, in denen beispielsweise ein Mann in Berlin mit einem Gürtel verprügelt wird, weil er eine Kippa trägt, stellt sich diese Frage noch immer. Wie kann es sein, dass traditionelle Juden auf den Straßen Europas in Angst und Schrecken leben müssen, während sich die Kufiya (alias Palästinensertuch) wieder zu einem Fashion-Icon für ignorante Pseudo-Wokies entwickelt?
Könnte es daran liegen, dass Juden hierzulande, zum Glück, niemals jemanden wegen seines Glaubens, seiner Kleidung, seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung beleidigen, geschweige denn angreifen würden, während es genau dieser offen ausgelebte und tätlich ausgeübte Hass auf Juden, Schwule und Frauen ist, der den gemeinsamen Nenner von Nazis und Islamisten bildet?
In jeder großen europäischen Stadt sind einige wenige Juden Tausenden dieser gewalttätigen Antisemiten aus der rechten Hooliganszene und aus arabischen Mafiaclans ausgesetzt.
Kippa zu tragen, ist gefährlich, während die Kufiya zum Fashion-Icon für Pseudo-Wokies wird.
Wie bereits 1924 ist die jüdische Bevölkerung auch 2024 demografisch anders strukturiert und sozialisiert als die Straßenbanden, die uns belästigen und bedrohen. Und genau wie 1924 wissen wir auch 2024 nicht, wie wir uns verteidigen sollen.
Unsere lange und schmerzvolle Geschichte hat gezeigt, dass uns niemand zu Hilfe kommen wird, solange wir uns nicht zuerst selbst helfen. Zwar reagieren unsere Gemeinden, indem sie Sicherheitssysteme installieren, israelische Wachleute anheuern und mit den örtlichen Behörden zusammenarbeiten. Das ist leider mehr als notwendig, doch geht das zugleich an der aktuellen Realität vorbei. Auf die sind wir leider nicht vorbereitet. Damit »Nie wieder« auch für uns nie zu einer bloßen Phrase werden kann, sollten wir uns darauf vorbereiten, richtig mit Anfeindungen und Gewalt umzugehen, anstatt Gemeindemitglieder davor zu warnen, jüdische Symbole in der Öffentlichkeit zu tragen.
In der U-Bahn als »Judenschwein« beschimpft
Was macht man, wenn man in der U-Bahn als »Judenschwein« beschimpft wird? Die meisten Menschen sind in einer solchen Situation zu perplex, um aufzustehen und so laut zu schreien, dass andere es hören können: »Nazi, schäm dich, lass mich in Ruhe!« Was soll man tun, wenn der Uber-Fahrer einen mit den Worten »Scheiß-Yahudi« aus dem Auto wirft? Die meisten Menschen haben zu viel Angst, solche Vorfälle zu melden, schließlich kennt der Fahrer bereits Namen und mitunter sogar die Adresse. Einige wissen, dass Uber einen Notfallknopf hat, der automatisch die notwendigen Details an die Polizei meldet – nur was passiert, wenn man ihn drückt?
Wenn jemand mit einem Gürtel auf einen losgeht, weil man Kippa trägt, ist es dann in Ordnung, dem Angreifer eins auf die Nase zu geben? Viele haben Hemmungen, sich selbst zu verteidigen, sei es, weil sie sich nicht sicher sind, ob es legitim ist, oder weil es ihnen an Fähigkeiten und Selbstvertrauen mangelt, dies zu tun. Auch für diejenigen, die zu jung oder zu alt oder zu schwach sind, um sich zu wehren, oder die es ganz einfach nicht wollen, ist es wichtig zu wissen, wann es richtig ist wegzulaufen und wohin, wann man um Hilfe rufen soll und wen.
Diese und viele andere Punkte müssen beantwortet werden, um taktisch und richtig auf Antisemitismus zu reagieren. Die notwendigen Fähigkeiten können gelehrt, trainiert und weitergegeben werden, und das sollten sie auch.
Jüdische Gemeinden sollten es als ihre Aufgabe begreifen und damit anfangen, solche Notfalltrainings für ihre Mitglieder zu organisieren. Und wir Mitglieder sollten solche Angebote, falls vorhanden, umfassend und ernsthaft nutzen.
Das Golda Meir zugeschriebene Statement »Sein oder nicht sein ist kein Kompromiss. Entweder man ist, oder man ist nicht«, trifft auch auf die momentane Lage zu. Das bedeutet nicht, dass wir rachehungrige »Bärenjuden« werden, sondern dass wir genug Selbstvertrauen entwickeln, damit jeder, »sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden kann«.