»Man verliert allmählich die Hoffnung.» Mit diesen drastischen Worten kommentierte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, am Sonntag nach Schließung der Wahllokale in Sachsen und Thüringen die ersten Hochrechnungen der dortigen Landtagswahlen. Die Ergebnisse entsprachen den Befürchtungen: In Thüringen wurde Björn Höckes AfD mit deutlichem Vorsprung stärkste Kraft, in Sachsen landete sie nur hauchdünn hinter der CDU von Ministerpräsident Michael Kretschmer auf Platz zwei.
Bundeskanzler Olaf Scholz warnte in einer ersten Reaktion, an derlei Ergebnisse «kann und darf unser Land sich nicht gewöhnen», Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sah eine «Zäsur». Und Reinhard Schramm, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen mit Sitz in Erfurt, betonte noch einmal, dass die AfD weiterhin keine normale Partei sei.
Ärger und Besorgnis sind die vorherrschenden Emotionen.
Am Tag nach der erschütternden Wahl trifft man am Münchner Jakobsplatz dennoch auf eine Gemeindepräsidentin, die alles andere als schockiert wirkt. Vielmehr sind Ärger und Besorgnis die vorherrschenden Emotionen. Sie erinnere sich noch gut an den Wahlabend in Thüringen 2019, erzählt Charlotte Knobloch, schon damals seien viele fassungslos gewesen, hätten zahlreiche Menschen das Gefühl gehabt, dass etwas zu kippen beginnt.
«Das ist fünf Jahre her, und den Demokraten ist seitdem noch mehr als vorher der Boden unter den Füßen weggebrochen.» Trotz vieler Alarmsignale und Warnungen sei die Zeit nicht sinnvoll genutzt worden. Im Gegenteil: «Von ein paar Ausnahmen abgesehen, hat man sich dem Problem nicht mit aller Kraft gewidmet.»
Historischer Moment
Auch jetzt beschleiche den Beobachter erneut das Gefühl, einem historischen Moment beizuwohnen, sagt die IKG-Präsidentin, «in jedem unschönen Sinne des Wortes». Sie selbst fühle sich an die Erzählungen ihres Vaters erinnert, der mit ihr nach dem Krieg häufig über den Zusammenbruch der Weimarer Demokratie Anfang der 30er-Jahre sprach. Damals wie heute «wirkte die demokratische Politik überwiegend hilflos, während zu viele Wähler sehr deutlich machten, dass sie extreme und menschenverachtende Akteure in verantwortlicher Stellung wollten».
Gera oder Bautzen sind, von München aus gesehen, weit weg. Die bayerische Landeshauptstadt ist ein anderes Pflaster, das sagt auch Knobloch, und dies zeigt sich in den Zahlen. Bei der Landtagswahl im Oktober 2023 kam die AfD hier nur auf gut sieben Prozent, weniger als die Hälfte ihres Ergebnisses im gesamten Freistaat und nicht einmal ein Viertel des Stimmanteils, den die Partei am Sonntag in Sachsen und Thüringen erzielte.
Ändern diese Wahlen – oder auch die kommende in Brandenburg – für die Münchner IKG somit überhaupt etwas? Ja, antwortet die Präsidentin mit Nachdruck, denn einen solchen Einschnitt könne man nicht ignorieren. «Wenn es ein paar Häuser weiter brennt, dann lehne ich mich ja auch nicht zurück und hoffe das Beste, sondern ich treffe alle Vorbereitungen, die zum Schutz nötig werden können.»
Ablehnung des Erfolgsmodells der Bundesrepublik
Die Wahlen hätten bis in die Münchner Gemeinde hinein atmosphärisch etwas verändert. «Seit diesem Sonntag haben wir die Ablehnung des Erfolgsmodells der Bundesrepublik an der Wahlurne schwarz auf weiß. Was über 75 Jahre standgehalten hat, kann jetzt wegbrechen. Den jüdischen Menschen in Deutschland, den das nicht beunruhigt, gibt es nicht, egal, in welchem Bundesland er lebt.»
Knobloch erinnerte daran, dass die jüdische Gemeinschaft seit dem Massaker der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 ohnehin in höchstem Maße verunsichert und Israel seitdem in einem Krieg um seine Sicherheit gebunden sei. Stabile Verhältnisse zumindest in Teilen der Diaspora wären in dieser Lage eigentlich umso wichtiger, doch gerade jetzt drohe selbst Deutschland als Ankerpunkt auszufallen.
Zur AfD als parlamentarischem Arm des Rechtsextremismus komme dabei das «Bündnis Sahra Wagenknecht» (BSW) als «Verkörperung und Sammelbecken des linksradikalen Israelhasses». Parteigründerin Sahra Wagenknecht sei schon 2010 nach einer Rede des damaligen israelischen Präsidenten Schimon Peres im Bundestag demonstrativ sitzen geblieben, von dort führe eine gerade Linie in eine Gegenwart, in der sie Israel unter Verdrehung aller Tatsachen einen «Vernichtungsfeldzug» vorwirft.
Die Wahlen haben bis in die Münchner Gemeinde hinein atmosphärisch etwas verändert.
Kurz vor Rosch Haschana und ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl drängt sich die Frage auf, welche Zukunft die IKG-Präsidentin für ihre Gemeinde und das jüdische Leben sieht. In einer ersten Stellungnahme am Sonntagabend hatte es geheißen, diese Zukunft sei «ab heute wieder eine große und schwierige Frage». Ihr Vater habe sie im Laufe seines Lebens mit seinem unverbesserlichen Optimismus angesteckt, sagt Knobloch jetzt, «nur so konnte man jüdische Existenz in diesem Land überhaupt wieder aufbauen». Ein Jahr sei viel Zeit, in der die politische Entwicklung auch wieder eine erfreulichere Richtung nehmen könnte.
«Hoffnung gibt es immer», hatte die Präsidentin am Wahlabend auf X noch geschrieben, aber: «Sie muss jetzt erkämpft werden.» Was bedeutet das konkret? «Wehrhafte Demokratie heißt nichts anderes, als die Demokratie vor extremistischen Parteien und ihren Wählern zu schützen.» Als permanente Bedrohung dürfe eine so gestärkte AfD nicht bestehen bleiben. Der beste Weg, um das zu erreichen, bleibe eine klare Zurückweisung der Extremisten an der Wahlurne, so Knobloch. «Wenn die Gesellschaft sich gegen diese Entwicklung auflehnt, dann können wir bewahren, was dieses Land ausmacht. Darauf hoffe ich.»