Trompetenstöße und Orgelklänge empfangen die Rabbiner und Kantoren in der Erfurter Synagoge. Begleitet von Rabbiner Walter Jacob und dem Präsidenten des Abraham Geiger Kollegs, Walter Homolka, betreten Alexander Nachama und Isodoro Abramowicz, Adrian Schell und Nikola David das Gotteshaus. Ihnen folgen die Lehrer und Dozenten des Potsdamer Seminars sowie Mitstudenten und ehemalige Absolventen.
Ausdruck lebendigen jüdischen Lebens wird es Ministerpäsidentin Christine Lieberknecht (CDU) in ihrer Festansprache nennen. Josef Schuster überbrachte als Vizepräsident die Gratulation des Zentralrats und namentlich die von Dieter Graumann, der sein Fehlen entschuldigen ließ. Schuster sprach die Absolventen persönlich an; sie hätten als Kandidaten die Synagoge betreten und würden sie als Herren Rabbiner und Herren Kantoren wieder verlassen.
Zentralrat Das Markenzeichen »Rabbiner made in Germany« sei vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen, sagte Schuster, der von seinen Präsidiumskollegen Mark Dainow und Heinz-Joachim Aris begleitet wurde. Der Zentralrat sei sich als Dachverband aller Landesverbände, unabhängig von seiner Ausrichtung, gemeinsam mit den Politikern darin einig, dass Steuergelder für die Ausbildung von Kantoren und Rabbinern gut angelegt seien, auch wenn diese ins Ausland gehen sollten.
Als man 1995 die ersten jüdischen Kulturwochen in Thüringen beging, habe man sich eine solche Entwicklung nicht vorstellen können, sagte Christine Lieberknecht in ihrer Festansprache. Damals habe man alles Jüdische mit Neugier, aber auch mit Scham und Hoffnung begleitet. Inzwischen sei ein lebendiges Miteinander entstanden. Dies sei Grund zur Dankbarkeit und Freude. Lieberknecht betonte vor allem die politische Zusammenarbeit zwischen den Ländern Brandenburg und Thüringen, innerhalb derer man sich weiter bemühen wolle, bei der Ausbildung von Rabbinern und Kantoren zu helfen.
Der Dank aller Redner galt auch dem persönlichen Einsatz der thüringischen Ministerpräsidentin, die in Diplomatie mit ihren brandenburgischen Kollegen die politischen Voraussetzungen für eine qualitativ hochwertige Ausbildung von Rabbinern und Kantoren geleistet habe. Die Etablierung einer jüdischen Theologie an der Universität Potsdam und die Kooperation des Kantorenseminars mit der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar – deren Leitung übernimmt der Musikwissenschaftler und Pianist Jascha Nemtsov – sowie das Studium Jüdische Sozialarbeit an der Fachhochschule Erfurt seien Zeugnis.
wiederbelebung Die Ordination und Amtseinführung der beiden Rabbiner und der Kantoren zeugten von der Wiederbelebung des deutschen Judentums, sagte die Präsidentin der europäischen Union progressiver Juden, Miriam Kramer.
»Wenn die Musik erklingt, öffnen sich unsere Herzen«, ging der Vorsitzende des Stiftungsrats der Leo Baeck Foundation, Bodo Ramelow, auf die beiden Kantoren ein. Die Musik zeige, dass sich deutsches Judentum heute nicht mehr über die Trauer, sondern über Lebendigkeit definieren könne.
Ein wenig stolz ist der Direktor des Abraham Geiger Kollegs, Walter Homolka, schon. Nach vier Rabbinerordinationen, die sein liberales Seminar aus Potsdam bislang feiern konnte, sind am Mittwoch in Erfurt erstmals auch zwei Kantoren in ihr Amt eingeführt worden. Das 1999 gegründete Seminar hatte 2008 auch eine Ausbildungsstätte für Kantoren eingerichtet.
Zahlreiche Gäste waren zum Festakt in die kleine Synagoge am Juri-Gargarin-Ring gekommen. Rabbiner Henry G. Brandt vertrat nicht nur als ihr Vorsitzender die Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschland, sondern war auch als künftiger Kollege von Nikola David in der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg Gast der Ordination. Darüber hinaus kamen zahlreiche Gemeinderepräsentanten aus dem In- und Ausland. Aus den Kirchen waren der Einladung Landesbischöfin Ilse Junkermann (Evangelische Kirche Mitteldeutschland), Christian Stawenow (Regionalbischof Erfurt-Eisenach) und Gregor Arndt (Dompropst Bistum Erfurt) gefolgt. Darüber hinaus nahmen Vertreter des Deutschen Bundestages und der Landtage Thüringen und Brandenburg an der Feier teil.
Freude »Ich freue mich über jeden Rabbiner und Kantor, der in Deutschland und auch für Deutschland ausgebildet wird, egal ob liberal oder orthodox«, kommentierte Zentralratsvizepräsident Josef Schuster die Feier in Erfurt. Wenn er sich an die eigene Kindheit zurückerinnere, so habe man sich damals geschämt, als Jude in Deutschland zu leben. »Die Rabbinerausbildung zeugt hier doch von einer sehr erfreulichen Entwicklung«, sagte Schuster. An Arbeitsmangel für liberale wie für orthodoxe Vertreter werde es in den deutschen Gemeinden nicht fehlen, da einige Rabbiner schon längst die Pensionsgrenze überschritten hätten.
Für den Vorsitzenden der thüringischen Landesgemeinde in Erfurt, Reinhard Schramm, bedeutet die Feier auch ein Dankeschön vonseiten des Geiger-Kollegs für die Anstrengungen, die auch die Gemeinde hinsichtlich der Institutionalisierung einer jüdischen Theologie geleistet habe. »Und es ist ein positives Zeichen für eine kleine, gut arbeitende Gemeinde im Osten«, sagte Schramm. Mit Konstantin Pal amtiert bereits ein Geiger-Absolvent als Landesrabbiner in Erfurt. Er begrüßte seine Kollegen als rabbinischer Gastgeber.
Tradition Alexander Nachama wurde 1983 geboren. Der bereits ausgebildete Kantor und sportlich ambitionierte Nachama ist bekennender Anhänger des 1. FC Frankfurt, des Fußballvereins seiner Heimatstadt. Er arbeitet seit November 2012 als Gemeinderabbiner für die Dresdner Jüdische Gemeinde und versucht, mit neuen Medien wie Facebook und anderen Netzwerken besonders junge Leute für die Gemeinden zu interessieren. In seiner Masterarbeit beschäftigte sich der 29-jährige Spross einer bekannten Berliner Rabbiner- und Kantorenfamilie mit dem Anzünden der Schabbatkerzen (Hadlakat Nerot).
Sein Pate Rabbiner Bar Ephraim Reuven stellte seinen Ordinationsspruch vor: »Sei beherzt und tapfer, zage nicht und sei nicht ängstlich, denn der Ewige, dein Gott, ist mit dir, überall wohin du gehst« (Josua 1,9). Walter Jacob bestätigte im Namen des Kollegiums und der Lehrer am Abraham Geiger Kolleg, dass Nachama sein Studium in Theorie und Praxis erfolgreich absolviert habe und überreichte Tallit und Urkunde.
Bücher Zehn Jahre älter als sein Kollege ist Adrian Michael Schell, der wie Nachama in Frankfurt am Main geboren wurde. Zwar befasste er sich schon seit der Kindheit mit Religion, doch erschien ihm das Judentum lange Zeit eine fast tote, in alten Traditionen verhaftete Religion, die sich in Deutschland nur durch die Schoa definierte. Erst ein längerer Aufenthalt bei Verwandten in den USA habe ihm »einen entspannten Umgang mit dem Judentum ermöglicht«. So absolvierte er zunächst eine Buchhändlerlehre. Seine Tätigkeit beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München brachte ihn mit der dortigen Gemeinde zusammen, und seine Berufung wuchs.
Er ist Jugendleiter der Union progressiver Juden in Deutschland. Seit Frühjahr 2012 betreut er zusätzlich die Jüdische Gemeinde Hameln, deren Rabbiner er nach seiner Ordination sein wird. Schell behandelte in seiner Abschlussarbeit die Adoption von Kindern und die dazugehörigen halachischen (religionsrechtlichen) Diskussionen. Rabbinerin Gesa Ederberg stellte als Patin Schells Ordinationsspruch vor: »Lass deine Hand sein ob dem Manne deiner Rechten, dem Menschensohn, den du dir stark gemacht« (Psalm 80,18).
Oper Für Nikola David ist seine künftige Kantorentätigkeit eine Berufung. Der ausgebildete Opernsänger stand als lyrischer Tenor auf den Bühnen von Novi Sad, Eisenach, Dessau und Augsburg. Der 1969 in Bela Crkva, Serbien, Geborene studierte zunächst an der Musikakademie Novi Sad Gesang und Musikpädagogik. 1998 kam er mit einem Stipendium der Anni-Eisler-Lehmann-Stiftung nach Deutschland und absolvierte dann am Peter-Cornelius-Konservatorium der Stadt Mainz sein künstlerisches Aufbaustudium.
Ein Oberrabbiner habe ihm vorhergesagt, dass er 15 Jahre an Opernhäusern singen werde, aber eigentlich Kantor werden würde. Als er 2008 sein Studium in Potsdam aufnahm, waren die 15 Jahre abgelaufen. Nikola David verfasste eine Bachelorarbeit zum Thema »Die Hymne Adon Olam« und hat sich darin mit der Bedeutung dieses traditionellen Schlussliedes in der jüdischen Gottesdienstliturgie und mit verschiedenen Vertonungen auseinandergesetzt. Musik ist seine Passion, und so lautet sein Investiturspruch: »Singet dem Ewigen ein neues Lied, denn Wunderbares hat Er vollbracht, Seine Rechte half Ihm, der Arm Seiner Heiligkeit« (Psalm 98,1).
Chor Davids Freund von den ersten Tagen der Studienzeit in Potsdam ist Isodoro Abramowicz, der in Erfurt ebenfalls seine Investitur als Kantor erhielt. Wenn er sich doch für das Physikstudium entschieden hätte, wäre der jüdischen Gemeinschaft mit ihm ein charismatischer Kantor verlorengegangen. Isodoro Abramowicz baut auf die feine Mimik und bringt mit einem kleinen Lächeln ganze Chöre in Schwung. Der schlanke Mann ist 1972 in Buenos Aires in eine traditionelle jüdische Familie geboren.
Seinen Namen hat er väterlicherseits von seinem Großvater, der aus Polen nach Argentinien emigriert war, die blonden Haare von der mütterlichen Linie, die aus Litauen und Weißrussland Ende des 19. Jahrhunderts vor den Pogromen geflüchtet war. Er studierte Musik an der Universidad Nacional de Buenos Aires. Dass er 2009 seine kantoralen Studien am Abraham Geiger Kolleg und im Masterstudiengang der Jüdischen Studien an der Universität Potsdam aufnahm, war dem Zuspruch seiner Frau, die als Tänzerin ein Engagement am Staatstheater Oldenburg erhielt, geschuldet.
Sein Kontakt zur Gemeinde führte schließlich zum Stipendium in Potsdam und an das Hebrew Union College in Jerusalem und an das Tel Aviv Cantorial Institute, das von Naftali Hershtik geleitet wird. Isodoro Abramowicz betrat mit seiner Masterarbeit zum Thema »Das Frankfurter Kaddisch – Ein liturgischer Kalender« unbekannten Boden. Er hob einen Schatz von mehr als 50 Melodien für die Liturgie eines ganzen Jahreszyklus, zu dem bislang keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorliegen. Er wurde von seinem Lieblingslehrer Elijahu Schleifer begleitet. Sein Investiturspruch lautet: »Gott, höre mein Gebet, lausche den Sprüchen meines Mundes« (Psalm 54,4).
Alle vier Absolventen zeigten sich begeistert vom Geiger-Kolleg. Ausbilder von Weltrang, die Freiheit der individuellen Studiengestaltung und die begleitende akademische Ausbildung schätzen die vier Absolventen besonders. Entsprechend anspruchsvoll sind ihre Forschungsgebiete, die sie in ihren Abschluss-, Bachelor- und Magisterarbeiten vorstellten.
Familie Trompete und Orgelklang entließ die frisch ordinierten und ins Amt eingeführten Rabbiner und Kantoren. Freunde und Familienmitglieder nahmen die vier vor der Tür freudig in Empfang. Tränen der Rührung und der Erleichterung flossen. »Beim Examen hält die Anspannung über einen Zeitraum an, hier ist es ein ganz bestimmter Tag«, sagte Schell im Vorfeld. Für Alexander Nachama sei immer der Gedanke prägend gewesen, »wenn ich erst einmal Rabbiner werde, dann ist der Zeitpunkt gekommen.«
Froh und glücklich lagen sich die Freunde Isodoro Abramowicz und Nikola David in den Armen. Ihre Ernennungsurkunden würden einen Ehrenplatz erhalten, beteuerten sie. Mit dem Ordinationsgottesdienst am frühen Nachmittag waren die Feierlichkeiten jedoch keinesfalls abgeschlossen. Im Rahmen eines Festkonzerts verlieh Christine Lieberknecht am Abend dem Linken-Politiker Bodo Ramelow für seine Verdienste um das Abraham Geiger Kolleg die Abraham-Geiger-Plakette.