Ich wundere mich selbst, an wie viele Details ich mich noch erinnere. Dabei war ich erst sechs Jahre alt, und alles ist schon eine Weile her. Die Reise von der Ukraine nach Deutschland im Dezember 2005 empfand ich als Abenteuer. Wir sind in einem riesigen Laster – zumindest kam er mir damals riesig vor – losgefahren: Richtung Deutschland!
Vorne saß der Fahrer, und hinten, auf der Ladefläche, lag eine große Matratze für uns: für meine Eltern und für meine Geschwister, meinen jüngeren Bruder und meine ältere Halbschwester. Da saßen wir alle eng beieinander, quatschten, spielten, schliefen. Und um uns herum standen unsere Sachen. Das war total schön. Eine Familienfahrt im Kofferraum.
Gerade vor Kurzem habe ich mir ein Video angeschaut, auf dem meine Eltern diese Fahrt festgehalten haben. Ich schaue darauf in die Kamera und sage ganz glücklich: »Ja! Wir fahren nach Deutschland!« Meine ältere Schwester war zu diesem Zeitpunkt schon ein bisschen anders drauf. Sie war traurig wegen all dem, was sie zurücklassen musste.
Noch heute erinnere ich mich an ein unangenehmes Erlebnis aus meiner Schulzeit.
Mein kleiner Bruder und ich dagegen dachten: »Wir waren in der Ukraine glücklich, und in Deutschland werden wir auch glücklich sein.« Außerdem erwarteten uns ja schon unsere Großeltern, väter- wie mütterlicherseits, die beide jeweils schon vor uns ausgereist waren.
Noch heute erinnere ich mich an ein unangenehmes Erlebnis aus meiner Schulzeit. Geboren wurde ich am 12. Oktober 1999 in Charkiw. Und natürlich habe ich als Kind wissen wollen, warum wir die Ukraine verlassen würden, und unsere Eltern haben uns das auch erklärt. Die Ukraine ist ja ein ziemlich korruptes Land, und meine Eltern haben beide beim Fernsehen gearbeitet – sie haben Reisesendungen gemacht.
Das bedeutete, dass sie viel unterwegs waren. Es hat sie aber enorm gestört, dass sie damit in eine Lage hineinmanövriert wurden, die sie und damit auch uns irgendwie hätte privilegieren können. Damit waren wir und unsere Leistungen einem Verdacht ausgesetzt. »Du bekommst ja nur wegen dem und dem eine Eins« und solche Sachen. Das fanden sie belastend.
PRALINEN Außerdem haben meine Eltern darüber nachgedacht, was aus uns werden würde, wenn sie einmal nicht mehr den Job beim Fernsehen hätten. Sie wollten einfach in ein Land ziehen, in dem es fairer zugeht. Antisemitismus war sicher nicht vorrangig, oder sagen wir einmal, der erste Grund, warum wir gegangen sind. Obwohl der natürlich in der Luft hing und wir selbstverständlich davon ausgegangen sind, dass es dort, wohin wir jetzt gehen würden, keinen Antisemitismus geben würde.
Und es war ja auch so. Antisemitismus existierte irgendwie damals in Deutschland noch nicht. Wir sind dann also in München gelandet. Der Anfang war nicht leicht. Und ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Erlebnis, das bis heute zu meinen traurigsten überhaupt gehört.
Ich kam in die Grundschule. Sie lag gegenüber von unserer Unterkunft, und vieles war wegen der neuen Sprache ganz schön schwierig. Dabei wollte ich doch alles, alles richtig machen. Ich habe also mitbekommen, dass die deutschen Kinder, wenn sie Geburtstag hatten, immer Schokolade in die Schule mitgebracht haben. Das habe ich zu Hause erzählt. Und als dann mein Geburtstag näherrückte, ist mein Papa gleich los in den Supermarkt und hat dort die teuerste Schokolade, die er in den Regalen finden konnte, gekauft.
Damit bin ich also dann in die Schule gegangen, war total stolz, war total glücklich und habe die Köstlichkeit verteilt. Und dann entdeckten die Kinder, dass da Alkohol drin war! Mein Papa hatte ja da-mals noch nicht lesen können, was auf der Verpackung stand. Die Kinder waren so sauer und wütend auf mich. Und ich war so sauer und wütend auf meinen Papa.
Ich bin nach Hause gerannt, habe geweint, habe meinen Papa beschimpft und ihn böse angemotzt. Dabei wollte er nur, dass ich die besten Pralinen von allen bringen würde. Mein Vater denkt auch heute immer wieder an diese Episode. Und ich auch.
FREIWILLIGENDIENST Innerhalb eines halben Jahres habe ich dann recht schnell Deutsch gelernt, auch dank eines Mädchens, das meine Freundin wurde und das zu Hause ebenfalls wie ich Russisch sprach, das aber eben auch schon Deutsch konnte.
Seit fünf Jahren habe ich jetzt mittlerweile meinen deutschen Pass in der Tasche, seit 2018 mein Abitur.
Seit fünf Jahren habe ich jetzt mittlerweile meinen deutschen Pass in der Tasche, seit 2018 mein Abitur. Mir war klar, dass ich danach etwas Soziales machen wollte. In Amerika oder in Israel. Ich entschied mich schließlich für Israel, wo ich ein halbes Jahr lang als Freiwillige der ZWST arbeitete.
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland begann ich, für die Europäische Janusz Korczak Akademie in München zu arbeiten, insbesondere für das Projekt »YouthBridge« – es bringt Kinder und Jugendliche aller Kulturen und Religionen zusammen und befähigt sie über ein ausgearbeitetes Programm und die Erfahrungen, die sie dabei machen, dazu, Werte zu vermitteln, unterschiedliche Menschen zusammenzubringen, Veranstaltungen zu organisieren.
Außerdem habe ich ein eigenes soziales Projekt gestartet, den Instagram-Account »catcallsofmuc«. Das Projekt wurde inspiriert von dem Instagram-Account »catcallsofnyc«. Die Gründerin Sophie Sandberg in New York hatte ich über YouthBridge kennengelernt. Wir haben Sophia vergangenen April in New York getroffen. Was sie uns da erzählte, hat uns allen sehr imponiert, obwohl einige von uns der Sache zunächst ziemlich skeptisch gegenüberstanden.
ORGANISATION Bei »catcallsofmuc« geht es darum, verbale, aber auch körperliche Übergriffigkeit aufzudecken und aufzuzeigen. Wir haben eine Instagram-Seite, und alle Menschen, Männer wie Frauen, die Belästigungen erfahren haben, sexuelle, homophobe, antisemitische, können uns ihre Geschichten schicken mit der genauen Angabe, wo das passiert ist.
Und wir gehen dann dorthin und schreiben an Ort und Stelle mit Kreide auf den Boden, was diesen Menschen dort widerfahren ist. Die Resonanz auf unser Angebot war wirklich überwältigend. Wir haben in diesem halben Jahr 150 Geschichten gesammelt: Sie stammen – anders kann man das nicht sagen – zu 99 Prozent von jungen Frauen, die sexuell belästigt worden sind, manchmal noch gekoppelt mit Rassismus oder mit Islamophobie. Ja, und dann wurde mir noch angeboten, für »Masa Israel« zu arbeiten. Ich habe mich beworben. Ich wurde genommen und arbeite jetzt seit September für diese Organisation.
Masa geht auf eine Initiative von Ariel Sharon zurück.
Masa geht auf eine Initiative von Ariel Sharon zurück. Die Idee, die dahintersteckt, ist, dass jeder junge jüdische Mensch, der nicht in Israel lebt, die Möglichkeit haben soll, ein Jahr in Israel zu verbringen. Dabei geht es nicht darum, Juden aus ihren Heimatländern nach Israel zu locken. Es geht darum, dass jüdische Menschen eine Beziehung zu Israel aufbauen, weil Israel der Ursprung jüdischen Lebens ist und weil man dort einfach Judentum pur erfahren kann.
Das Programm ist auf vier bis zwölf Monate beschränkt, und dann gehen die Leute wieder zurück in ihre Länder. Will jemand in Israel bleiben – auch gut. »Masa Israel« richtet sich an 18- bis 30-Jährige und bietet mehr als 250 verschiedene Programme an: Man kann ein Praktikum machen, ein Auslandssemester, ein Freiwilligenjahr.
Das alles ist nicht kostenlos, aber man bekommt ein Stipendium. Und ich bin da eben die Ansprechpartnerin für Deutschland und Österreich und kann nur sagen: »Macht mit, Leute!« Bisher gestaltet sich die Arbeit für mich vor allem als Bürojob, ich muss viel organisieren, viel planen, viele E-Mails beantworten. Daran muss ich mich gewöhnen. Ich bin ja eher der zupackende Typ und draußen mit Menschen unterwegs. Dort sehe ich meine Zukunft.
TRAUM Ich möchte nächstes Jahr anfangen zu studieren, am liebsten in Richtung Kommunikation, PR, Journalismus. Und dann will ich unbedingt im sozialen Bereich unterkommen, in der Marketingabteilung einer sozialen Einrichtung. Das wäre es. Marketing macht mir Spaß, aber eben nicht für Lippenstifte, sondern für etwas, das die Gesellschaft voranbringt.
In Amerika unterzukommen, wäre mein Traum. Ich mag das Leben dort. Berufsmäßig habe ich mich natürlich bisher am ehesten der jüdischen Community zugehörig gefühlt, und das ist auch okay so.
Mittlerweile bin ich aber sehr offen geworden. Gruppen können ja auch einschränken und Vorurteile verstärken. Oder sagen wir einmal so: Ich fühle mich in vielen Communitys wohl. Und am Ende kommt es doch auf den einzelnen Menschen.