Die AfD wurde bei den Kommunalwahlen am 9. Juni in vielen Städten und Landkreisen in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt stärkste Kraft. Was bedeutet das für die jüdischen Gemeinden, und wie blicken die Gemeindevorsitzenden auf die bald anstehenden Landtagswahlen?
Es sei enttäuschend, sagt Juri Rosov, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Rostock. Bisher habe er die Hansestadt immer als eine Festung gegen die AfD gesehen. Sie sei in der Vergangenheit eher links gewesen. Eva-Maria Kröger, die Oberbürgermeisterin, die der Linken angehört und seit Februar 2023 in diesem Amt ist, habe gerade ihren ersten offiziellen Termin in der Jüdischen Gemeinde absolviert.
Rosov erinnert sich noch an eine Situation, die vor 20 Jahren stattfand. Damals sei die NPD mit sechs Prozent in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern eingezogen. »Wir waren alle geschockt, aber unser damaliger Landesrabbiner William Wolff beruhigte uns mit den Worten, dass unsere Demokratie das ertragen könne.« Er hingegen sei ungeduldig gewesen und hätte sich gefragt, wie es 50 Jahre nach Kriegsende möglich sein könne, dass die NPD so viel Zustimmung erhalte.
Juri Rosov: Man darf auf dem rechten Auge nicht blind sein
Jetzt sieht Rosov die Demokratie gefährdet. »Ich weiß, was viele Menschen als Alternative sehen«, sagt er. Davor habe er Angst. Er sei auch überrascht, dass so viele Menschen gegen demokratische Länder wie die Ukraine und Israel eingestellt seien. Er hefte an sein Jackett immer zwei Fahnen: die der Ukraine und die israelische. Und dann erfahre er oft die Reaktionen der Menschen auf dieses Statement. »Es ist erschreckend, dass sich so viele offen gegen die beiden demokratischen Länder stellen, die von Diktaturen angegriffen werden.«
Doch er wisse auch von einigen Juden, dass sie mit der AfD sympathisieren, denn sie seien gegen die Einwanderung von Muslimen und würden darüber die antisemitischen Äußerungen mancher AfD-Politiker und deren Geschichtsverleugnungen vergessen. »Die Angst vor den Muslimen ist nach dem 7. Oktober größer geworden.« Aber man dürfe auch auf dem rechten Auge nicht blind sein.
»Die Angst vor den Muslimen ist nach dem 7. Oktober größer geworden.«
Juri Rosov
Die Bürgerschaft, die sich nun nach den Kommunalwahlen neu zusammensetzt, bestimmt auch über den Haushaltsetat. »Viele unserer Projekte werden darüber finanziert.« Das vergangene Wochenende sei schlimm gewesen. Es habe mehrere rassistische Ausschreitungen in Warnemünde, Grevesmühlen, Penkun und an weitere Ortschaften gegeben.
In Schwerin hat die AfD mehr als 26 Prozent erhalten, ebenfalls konnte sie mehrere Landkreise für sich entscheiden. Ihre stärksten Ergebnisse erzielte sie mit etwa 29,6 Prozent in Vorpommern-Greifswald und mit 29,8 Prozent im Gebiet der Mecklenburgischen Seenplatte.
Im nächsten Jahr findet auch in Mecklenburg-Vorpommern eine Landtagswahl statt. »Ich hoffe, dass die jetzige Tendenz dann der Vergangenheit angehört.« Die amtierenden Politiker hätten nun einen Denkzettel erhalten.
Max Privorozki: »So etwas hätte ich nicht erwartet«
Max Privorozki hat die Wahl im Ausland verfolgt. Sein Votum hatte er per Briefwahl abgegeben. »So etwas hätte ich nicht erwartet«, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle. Auch hier wird die AfD stärkste Partei im Stadtrat. Privorozki hatte bis zuletzt gehofft, dass die CDU vorn liegen würde – aber die AfD hat sogar einen Sitz mehr als die Christdemokraten.
Die Partei profitiere von den Fehlern, die auf Bundesebene gemacht werden, meint Privorozki. Die Hauptprobleme, die derzeit die Wähler umtrieben, seien die Kriege und der Terror, der nun auch in Form von Messerattacken Deutschland erreicht habe – »und nicht etwa das Gendern«.
Die Jüdische Gemeinde sei in der Stadt beliebt, er glaube nicht, dass Mitglieder Repressalien erleben werden. Die gute Beziehung zur Stadtverwaltung bleibe unverändert, ebenso die Zusammenarbeit mit der Polizei und dem Innenministerium. Aber es könne sein, dass die Stimmung kippt. Die Jüdischen Kulturtage werden auch aus dem Haushalt mitfinanziert, über den die AfD nun mit verfügt. In der Vergangenheit war der jeweilige Vorsitzende des Stadtrates bei der Eröffnung immer dabei. »Aber wie das jetzt wird, weiß ich noch nicht.« Würde ein AfD-Vorsitzender überhaupt kommen? Wäre das erwünscht? Max Privorozki zuckt mit den Schultern. Im Bundesland Sachsen-Anhalt kam die AfD auf knapp 28,1 Prozent – die nächste Landtagswahl findet 2026 statt.
Gennadi Kuschnir: Die AfD vertritt Ansichten, die bei zahlreichen Juden Erinnerungen an vergangene Zeiten wachrufen
Gennadi Kuschnir, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Cottbus, meint ebenfalls, dass die AfD von vielen als eine Partei betrachtet wird, die nationalistische und fremdenfeindliche Ansichten vertritt, die bei zahlreichen Juden Erinnerungen an vergangene Zeiten wachrufen. Die Distanzierung von den Gräueltaten des Holocaust und das relativierende Verhalten einiger AfD-Mitglieder gegenüber der NS-Zeit würden diese Ängste beflügeln.
»Wir befürchten, dass ein Erstarken der AfD zu einer gefährlichen politischen Landschaft führen könnte, in der die Rechte und die Sicherheit von Minderheiten, einschließlich der jüdischen Gemeinschaft, bedroht sein könnten«, so der Vorsitzende. In Cottbus konnte die AfD 29,1 Prozent erreichen. Im September finden in Brandenburg die Landtagswahlen statt.
Ekaterina Kulakova: »Für uns ist es eine schwere Frage, wie wir mit ihnen umgehen sollen«
Glücklicherweise habe der sächsische Landtag gerade den Staatsvertrag mit der Jüdischen Gemeinde Dresden ratifiziert, sagt Ekaterina Kulakova, Vorsitzende der Gemeinde, erleichtert. In Dresden hat sich die Mehrheit der Wähler bei der Kommunalwahl für die AfD entschieden. »Für uns ist es eine schwere Frage, wie wir mit ihnen umgehen sollen«, sagt die Vorsitzende. Der Antisemitismus sei in Dresden nie weg gewesen, es gebe ihn dort seit Jahrhunderten. »Aber seit dem 7. Oktober ist er stärker geworden.« Und Israel werde oft kritisiert.
»Die Demokratie weiter zu erhalten, sollten wir als unsere Aufgabe sehen.«
Reinhard Schramm
Die Mehrheit der Gemeindemitglieder stammt aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, darunter etliche aus Russland. Und nun möchte die AfD eine Partnerschaft mit Moskau anstreben. »Wir müssen da vorsichtig sein, denn wir sehen die Ergebnisse der russischen Politik – und die brauchen wir nicht.«
Viele Leute, die vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine geflohen sind, werden von der Dresdener Gemeinde unterstützt. Das sei ihr wichtig. Als Vorsitzende sei sie mit verschiedenen Organisationen in Kontakt. »Überall herrscht Unsicherheit, wie es weitergeht. Am 1. September findet die Landtagswahl statt. Was wird am 2. September sein?« Es sei keine leichte Zeit, so Ekaterina Kulakova.
Reinard Schramm: Dass die AfD hier so viele Stimmen bekommen hat, ist keine Überraschung
Auch in Thüringen werden am 1. September die Wähler zur Landtagswahl aufgefordert. Vor ein paar Wochen gaben sie bereits ihre Stimmzettel zur Kommunalwahl ab. »Dass die AfD hier so viele Stimmen bekommen hat, ist keine Überraschung, aber ich hatte trotzdem gehofft, dass sie weniger bekommen hätten«, sagt Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Erfurt und der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen.
Nun komme es Schramms Meinung nach darauf an, dass sich die demokratischen Parteien zusammentun und so die AfD zurückdrängen. »Die Demokratie weiter zu erhalten, sollten wir als unsere gemeinsame Aufgabe sehen.« Aber Schramm gibt auch zu bedenken, dass die Bundesrepublik vielleicht nicht alles richtig gemacht hat. »Auch die Regierungen in dieser Zeit sind schuld, denn sie haben sich nicht der ostdeutschen Probleme angenommen.«
Die Interessen der Ostdeutschen hätten seiner Meinung nach mehr im Fokus stehen müssen, ebenso wäre eine Wertschätzung der Biografien begrüßenswert. Bis heute gebe es kaum Spitzenpolitiker aus Ostdeutschland. Er gehe davon aus, dass Projekte, die sich gegen rechts positionieren, Schwierigkeiten bei der Finanzierung bekommen werden, wenn die AfD das Sagen hat. Die Situation der jüdischen Gemeinden in Thüringen würde er als »gut« bezeichnen.