Ein Studium in London? 2010 schien mir das – frisch nach dem Abitur – noch unvorstellbar. Ob freiwilliges soziales Jahr, Praktika oder eine Ausbildung – andere Möglichkeiten schienen verlockender und bezahlbarer. Nun habe ich in London gerade ein Masterstudium zu Politik und Sicherheit in Ost-, Mitteleuropa und Russland begonnen und blicke auf die ereignisreichsten Jahre meines bisherigen Lebens zurück. Wie bei den allermeisten Studierenden verliefen diese selten reibungslos.
Die erste Entscheidung nach dem Schulabschluss, die alle Abiturienten treffen müssen, ist: Wie geht es nun weiter? Viele jüdische Schulabsolventen zieht es zum Beispiel nach Israel. Ein freiwilliger Dienst im heiligen Land, um sich die Zeit zu nehmen, den eigenen Horizont zu erweitern, um Sprache, Politik, Land und Leute kennenzulernen, hinterlässt bei vielen Menschen einen bleibenden Eindruck. Egal ob sie sich dort politisch engagierten oder im Kibbuz Orangen pflückten: Ich traf noch niemanden, der bei der Erinnerung an das freiwillige soziale Jahr in Israel nicht ins Schwärmen geriet.
VErschenkte Zeit Viele Eltern, die aus der Sowjetunion nach Deutschland immigriert sind, haben dafür nur wenig Verständnis. Aus ihrer eigenen Biografie sind ihnen solche Freiwilligendienste fremd, und der Gedanke, dass ihre Kinder ihr Studium für ein – ihrer Meinung nach zumeist sinnloses – Jahr aufschieben, erscheint ihnen völlig abwegig. Ihr Credo lautet: Je eher die Kinder studieren, desto besser.
Denn ein Studium galt in der Sowjetunion als Privileg, weshalb auch meine Familie bis heute felsenfest davon überzeugt ist, dass es die sichere Eintrittskarte zu einem gut bezahlten Beruf ist. Auch das Bewusstsein, dass Juden der Zugang zu Hochschulabschlüssen im real existierenden Sozialismus deutlich erschwert wurde, begleitet viele Einwanderer mit sowjetisch-jüdischem Familienhintergrund bis heute – und folglich auch ihre Kinder.
So hätte auch meine Familie gar nicht verstehen können, warum man in einem Land mit relativ freiem Universitätszugang wie Deutschland freiwillig auf ein Studium verzichten will. Die dadurch geschürten Erwartungen sind natürlich groß. Wir sollten es besser haben als unsere Eltern und Großeltern. Diese Chance zu verspielen, stand nicht zur Debatte.
Doch von Rankings und Stipendien verstehen die Familien, in denen häufig kein Elternteil einen deutschen oder westeuropäischen Universitätsabschluss erworben hat, wenig. Nur, dass der Staat in Deutschland Kinder aus einkommensschwachen Familien aufgrund des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, im Volksmund BAföG genannt, fördert, hatte sich herumgesprochen. So war klar, dass auch ich zu Beginn meines Studiums der Sozialwissenschaften als Erstes meinen Antrag auf BAföG einreichte.
rücklagen Ins Ausland gehen? Vielleicht ein ganzes Programm dort abschließen? Nichts schien zu diesem Zeitpunkt noch unwahrscheinlicher. Studiengebühren konnte ich nicht bezahlen, und meine Familie hatte – wie die meisten Einwandererfamilien in Deutschland, egal ob nun jüdisch oder nicht – weder Rücklagen noch genug Glaubwürdigkeit bei Banken, um einen Kredit aufzunehmen. Im gelobten Land der vermeintlichen Chancengleichheit schien das aber keine Rolle zu spielen: Deutschland war ja auch so ganz schön, das Studium hierzulande erschwinglich, und selbst, wenn man aus schwierigen Verhältnissen kam, musste man sich – dem Zauberwort BAföG sei Dank – verhältnismäßig wenige Sorgen machen.
Nach und nach traf ich im Studium Stipendiaten unterschiedlichster Stiftungen. Über einen guten Freund erfuhr ich schließlich von ELES, dem zu diesem Zeitpunkt gerade frisch gegründeten jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk. Seit 2009 fördert ELES begabte jüdische Studierende in Deutschland. Ich überlegte nicht lange, denn was hatte ich schon zu verlieren? Ich wurde angenommen und erhielt die Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln und mich so zu verwirklichen, wie ich es zuvor kaum hätte planen können.
Die Förderung ermöglichte es mir, zahlreiche Praktika während des Studiums zu absolvieren und 2014 sogar für ein Auslandssemester nach Budapest zu ziehen. Der brisanten politischen Situation zum Trotz gewann ich in dieser Zeit Freunde und lernte durch dieses Semester für meinen weiteren Lebensweg, dass es sich immer lohnt, jede Gelegenheit – egal wie unwahrscheinlich sie einem selbst auf den ersten Blick erscheinen mag – zu ergreifen.
Budapest Besonders für jüdische Studierende bleibt Budapest aufregend: Nicht nur, weil die Stadt nach wie vor eine historisch wahnsinnig spannende und kulturell vielseitige Metropole ist, sondern weil sie auch trotz des gesellschaftlich weit verbreiteten Antisemitismus eine lebendige und aktive jüdische Gemeinde beheimatet. Dennoch entschied ich mich – angezogen vom postkommunistischen Flair – kaum ein halbes Jahr später dank des ELES-Stipendiums für ein Praktikum in der bulgarischen Hauptstadt Sofia.
Empfehlenswert ist es, sich vor jeder zukunftsweisenden Entscheidung im und vor dem Studium Strategien zu überlegen und Tabellen für den persönlichen Fortschritt zu erstellen. Die wichtigsten Fragen blieben dabei zumeist: Wann ergibt etwas für mich persönlich Sinn, oder wann hat es einen realen Mehrwert? Was sind Alternativen, wenn meine Vorhaben nicht klappen? Und wie lassen sich diese Ideen finanzieren?
Bei der letzten Frage sind die ersten Anlaufstellen für Studierende in und aus Deutschland immer die Verantwortlichen der jeweiligen Universität für Erasmus+, die Begabtenförderungswerke und BAföG. Erst nach Abwägung dieser Fragen entschloss auch ich mich, einen Schritt weiterzugehen und nach meinem deutschen Bachelor ein komplettes Studium im Ausland zu wagen. Ein erstes Fazit bislang? Die britische Hauptstadt ist attraktiv, und die Kurse machen Spaß. Und zumindest in Sachen Vielfalt kann sogar das bunte Berlin sich noch einiges von London abgucken.
Jüdische Stipendien
Bei folgenden Stiftungen können sich vor allem jüdische Studierende um ein Stipendium bewerben:
ELES
Das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) fördert jüdische Studenten mit deutscher oder EU-Staatsangehörigkeit bei ihrem Studium an staatlich anerkannten Hochschulen in Deutschland, der Schweiz und der europäischen Union. Auch ein Studium im Ausland kann in Form von Auslandszuschlägen gefördert werden. 597 Euro sind der maximale Betrag für ein Stipendium, darüber hinaus wird Studenten auch eine Studienkostenpauschale in Höhe von 300 Euro gewährt. Bis zum 15. Dezember können sich Interessierte für ein Stipendium ab dem kommenden Sommersemester bewerben.
http://www.eles-studienwerk.de/index.php?id=1
Gerhard C. Starck Stiftung
Die Gerhard C. Starck Stiftung fördert Mitglieder jüdischer Gemeinden aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz, die dem deutschen Sprach- und Kulturraum verbunden und zwischen 18 und 34 Jahre alt sind. Der Förderhöchstsatz der Gerhard C. Starck Stiftung liegt bei bis zu 700 Euro pro Monat. Zusätzlich erhalten die Stipendiaten monatlich 80 Euro Büchergeld.
http://www.starck-stiftung.de/stiftungsgedanke.htm
Studieren in Israel
Die »Masa«-Organisation der Jewish Agency bietet Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren, die mindestens ein jüdisches Großelternteil haben, finanzielle Unterstützung in Form eines Zuschusses bei einem Studium in Israel. Zusätzlich bietet »Masa« Informationen zu den Studiengängen ihrer neun Partneruniversitäten, darunter die Tel Aviver Universität, das Technion in Haifa und die IDC-Universität in Herzliya.
http://www.masaisrael.org
»Gap Year« in Israel
»Masa« bietet Abiturienten durch viele verschiedene Programme die Möglichkeit, Israel durch ein Praktikum oder Freiwilligendienste kennenzulernen. Auch für diese kann ein finanzieller Zuschuss beantragt werden.
http://www.masaisrael.org