Die Tage der jüdischen Kultur in Chemnitz sind zu Ende gegangen und waren so erfolgreich wie nie. Die Chemnitzer Bevölkerung nahm das Programmangebot zahlreich an. »Aber ich habe viele unserer Mitglieder vermisst«, bedauert Ruth Röcher. Darin sieht die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz einen Trend. Wie sie mehr Mitglieder, 90 Prozent sind russischsprachige Zuwanderer, motivieren kann, weiß sie manchmal selbst nicht mehr.
Als sie am Sonntag das Abschlussseminar der Chemnitzer Kulturtage im Gemeindesaal eröffnet, fragt sie einfach laut nach: »Was machen wir falsch?« Unter der Überschrift: »Erwartungen, Überraschungen, Enttäuschungen, Glücksfälle« diskutierten die Vorsitzenden der sächsischen Gemeinden über die Einwanderung und Integration besonders in ihrem Landesverband. Die Anthropologin Svetlana Roberman aus Jerusalem, Grigori Pantijelew, Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde Bremen und Olaf Glöckner vom Moses-Mendelssohn-Zentrum Potsdam versuchen als Fachleute Antworten auf diese Fragen.
startkapital Glöckner lieferte erste richtungsweisende Zahlen. »2006 bezeichneten sich nur elf Prozent der nach Deutschland Zugewanderten als ›angekommen‹. Im Vergleich waren es in Israel und den USA ganze 70 Prozent«, zitierte er eine Studie des Israelis Eliezer Ben Rafael. Haben die Zuwanderer in Deutschland ein Paradies erwartet, das es nicht gibt? Und wie sieht es aus? Bieten die anderen Staaten mehr als Deutschland? In Israel bekommen Neuankömmlinge im ersten halben Jahr ein Startkapital, danach gibt es kaum finanzielle Hilfen. Ist das soziale Netz in Deutschland also zu engmaschig? Haben die Zuwanderer vergessen, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist? Fragen, die provozieren.
Eher scheint es so, als seien strukturelle Probleme schuld daran, dass die Zuwanderer nicht ankommen. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die Verteilungspolitik des Staates. Aufgrund des sogenannten Königsberger Schlüssels wurden die Zuwanderer auf infrastrukturschwache Städte aufgeteilt. Arbeitsplätze sind dort nicht zu finden, die Berufsanerkennung ist unnötig kompliziert, die Integration erschwert. Die jüdischen Gemeinden konnten dann sehen, wie sie mit ihrer Aufgabe fertig wurden. Natürlich sei die Zuwanderung durch neue Regelungen 2005 deutlich begrenzt worden. Davor reichte es aus, dass die Auswanderungswilligen den Nachweis erbringen mussten, Juden zu sein. Ein Stempel im Pass, der in der ehemaligen Sowjetunion eher ein politisches Zeugnis denn ein religiöses war, reichte als Beweis aus.
Definitionssache Grigori Pantijelew aus Bremen ist 1994 aus Russland emigriert. Für ihn scheitert die Integration in die deutsche Gesellschaft schon an den Vorzeichen: »Offiziell kommt man als Kontingentflüchtling. Dessen Ziel ist die Assimilation.« Der Flüchtling solle mit der Gesellschaft des Aufnahmelandes verschmelzen. »Aber man selbst kommt, weil man Jude ist. Dessen Ziel ist die Integration«, erklärt Grigori Pantijelew. Demnach sollen jüdische Traditionen und Werte behalten werden und in der Aufnahmegesellschaft ihren Platz finden.
Ruth Röcher hat in Chemnitz eine andere Erfahrung gemacht: »Viele Zuwanderer wissen kaum etwas von der Religion.« Viele könnten nur sagen, was ihnen gefalle und was nicht, nachdem sie es in Chemnitz das erste Mal überhaupt erlebt haben. Auch die Unterschiede zwischen den Strömungen des Judentums seien ihnen kaum bekannt. Deshalb betrachtet Ruth Röcher ihre Gemeinde als klassische Einheitsgemeinde, wie es sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges viele gibt: »Wenn der Landesrabbiner Gottesdienst hält, wird es eher liberal. Ist er nicht in Chemnitz, gestalten wir manches auch orthodox.« Ihre Gemeinde sei immer noch auf der Suche.
mentalität Hinzukomme, dass sie vor der Wende gerade einmal zwölf Mitglieder zählte, die sich persönlich kannten. Bei heute 650 Mitgliedern kennt nicht mehr jeder jeden. Wie diese große Gemeinschaft trotzdem zu sich selbst finden kann? Ruth Röcher weiß sich oft keinen Rat: »Ich denke manchmal, dass ich die russische Mentalität nicht verstehen kann.« Sie erlebe häufig, dass Gemeindemitglieder erst auf Anweisungen reagieren und nicht frei für sich selbst sprechen.
»Diesen Homo sowjeticus gibt es nicht«, widerspricht die Anthropologin Svetlana Roberman. Sie beschäftigt sich mit der russischen Diaspora in Deutschland und Israel und hatte zwischen 2006 und 2008 auch die Chemnitzer Gemeinde unter die Lupe genommen. Ihr geht es um eine exakte Analyse und besonders um die Frage: Was macht eine Gruppe von Menschen zu einer Gemeinschaft? In Martin Bubers Konzept von einer Gemeinde als einem lebendigen Zentrum hat sie die Antwort gefunden: Bloße Treffen reichen nicht aus. Es muss aktiv zugehört, miteinander wirklich kommuniziert werden.
»Einzelne, bekannt gewordene Zuwanderer sind doch schon positive Beispiele«, greift Olaf Glöckner ein. Der Zuwanderungsexperte betont, dass es sich bei den Zuwanderern um zwei Generationen handele. »Die erste hat den Kopf nicht für Gemeindearbeit frei, denn sie hat mit typischen Migrationkonflikten zu kämpfen«, erklärt er.
Minderheit Grigori Pantijelew stimmt zu. In Bremen vertritt er seine Gemeinde neuerdings im Rat für Integration, um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Nora Goldenbogen, Vorsitzende der Dresdner Gemeinde, denkt noch weiter: »Zukünftig wird sich der besondere Status, den wir seit der Schoa tragen, verlieren. Wir werden nur eine unter vielen Minderheiten sein.« Das würde sich auch in den staatlichen Förderungen widerspiegeln, von denen die jüdischen Gemeinden abhängig sind. Dazu gäbe es keine Alternative. Besonders das Gros der ersten Zuwanderergeneration hat kein Geld. Für die zweite Generation gibt Olaf Glöckner schon eine bessere Prognose. Sie sei integriert, hervorragend gebildet und fasse in mittelständischen Berufen Fuß. »Die Frage ist, wie weit sie sich dann ins Gemeindeleben einbringen wollen«, so der Wissenschaftler. Nora Goldenbogen aus Dresden ist zuversichtlich: »Wenn die Gemeinden einen guten Grundstein gelegt haben, kommen sie spätestens nach Ausbildung und Familiengründung wieder.«
Ruth Röcher möchte 2010 eine jüdische Kindergartengruppe initiieren, denn eine gute Jugendarbeit hat sie sich schon selbst empfohlen. Ob das Seminar alle Teilnehmer also wirklich inspiriert hat? Für die rund 60 Zuhörer war es zumindest eine geballte Ladung an Information.