Proträt der Woche

»Was für ein Glück ich hatte!«

Noe Zimmermann denkt darüber nach, wem er seine Memoiren überlassen soll

von Steffen Reichert  04.10.2010 15:20 Uhr

»Jeden Freitag gehe ich in die Synagoge. Dass ich Russisch spreche, hilft mir«: Noe Zimmermann Foto: Douglas Abuelo

Noe Zimmermann denkt darüber nach, wem er seine Memoiren überlassen soll

von Steffen Reichert  04.10.2010 15:20 Uhr

Für mich bleibt Michael Ballack der beste Bayern-Spieler, auch wenn er längst nicht mehr in München ist. Wenn man sich dagegen diesen Ribéry anschaut – wie ein Traktor, er macht vorne alles platt. Aber egal. Bayern München wird immer mein Lieblingsverein sein. Vielleicht liegt das daran, dass ich nach dem Ende des Holocaust eine Zeitlang am Starnberger See gelebt habe. Vielleicht auch daran, dass ich als Junge bei Maccabi spielte und später bei Spartak, einem sowjetischen Klub. Auf jeden Fall ist Fußball noch heute meine große Leidenschaft, ich verfolge jeden Spieltag. Und das will mit 89 etwas heißen.

ALTER Es ist nicht einfach für mich, allein zu leben. Vor eineinhalb Jahren ist meine Frau gestorben, aber in meinem Alter denkt man nicht mehr darüber nach, noch einmal zu heiraten. Auch wenn dieser Verlust nur schwer zu verkraften ist: Ich versuche aktiv zu bleiben, um keine Langeweile aufkommen zu lassen. Im Sommer ist das kein Problem. Dieses Jahr war ich an der Ostsee im Urlaub, in Kühlungsborn. Ich saß auf einer schattigen Bank im Konzertgarten, Bibliothek und Kiosk waren ganz in der Nähe. So vergingen die Tage schnell. Schwieriger ist es dagegen im Herbst und im Winter. Aber ich interessiere mich sehr für Geschichte und lese viel. Mein Schwiegersohn schenkte mir jüngst Hitlers jüdische Soldaten – dieses Buch bewegt mich sehr. Und wenn ich nicht lese, dann schreibe ich, zum Beispiel, wie mein Leben verlaufen ist, welches Glück ich hatte. Meine Enkel haben mich darum gebeten.

Ich stamme aus Polen. Geboren 1921 in Chelm als Sohn eines frommen Fabrikbesitzers, kann ich auf eine glückliche Jugend zurückblicken. Erst als die deutsche Wehrmacht einmarschierte, begann das Unglück. Die 15.000 Juden, fast die Hälfte aller Einwohner, durften nicht einmal mehr einkaufen. Überall Plakate, Kontrollen und Kommandanturbefehle unter Androhung der Todesstrafe, dazu Berichte von Massenerschießungen.

Als sich eines Tages Ende 1939 alle Juden zum Arbeitseinsatz melden mussten, beschloss die Familie, dass einer von uns die Flucht über die nahe Grenze in die Sowjetunion wagen sollte. Mein großer Bruder wollte nicht, mein jüngerer war zu klein. »Einer aus unserer Meschpuke muss überleben. Du bist stark, du kannst es schaffen«, sagte mein Vater zu mir. Ich werde nie vergessen, wie ich mich beim Weggehen immer wieder umdrehte und meine Mutter vor dem Haus sah.

LEIDEN Mit viel Glück im Unglück, mit Freunden und Helfern – darunter auch deutsche Soldaten – schafften wir fünf Freunde es schließlich über die Grenze in die Ukraine. In einer Stadt namens Kowel, die voller jüdischer Flüchtlinge war, bekam ich einen Pass für drei Jahre. Ich arbeitete als Dreherlehrling und schließlich in einer Schneiderei. Ich las Anna Karenina, nun in kyrillischen Buchstaben, sowie Tolstois Krieg und Frieden. Und ich hielt den Mund, wie man es mir geraten hatte. Eine politische Freiheit, wie ich sie aus Polen kannte, war in der Sowjetunion unvorstellbar. Aber ich lebte.

Als Deutschland 1941 in die Sowjetunion einfiel, war ich gerade unterwegs zu Verwandten nach Brest. Ich wollte mich sofort als Freiwilliger an die Front melden. Aber das klappte nicht, weil ich pro forma noch kein Staatsbürger war. Doch ich kam nicht zurück in meine Stadt – wir waren abgeschnitten. Nach Tagen im Wald und ohne jede Hoffnung – ich wusste nicht, wohin – beschloss ich mit anderen polnischen Flüchtlingen, nach Polen zurückzukehren. 130 Kilometer waren es bis nach Hause. Wenn schon, dann sollten wir als Familie auch gemeinsam im Grab liegen.

Doch es kam anders. Ich wurde festgenommen und musste in einem KZ-Außenlager monatelang Kisten bauen, in denen wir geraubtes jüdisches Kulturgut verstauten: Gemälde, Gobelins, Kristallleuchter. Schließlich kam ich in ein Außenlager des KZ Bergen-Belsen – und irgendwie überlebte ich bis 1945. Eines Morgens waren die SS-Wachen plötzlich nicht mehr da. Dafür unsere britischen Befreier.

Haifa Als Überlebender kam ich nach Veldingen am Starnberger See, wo wir zunächst in einem früheren HJ-Lager, dann in beschlagnahmten Häusern hoher NS-Beamter wohnten. Da in diesen Tagen freiwillige Soldaten für die anstehende Gründung eines Staates Israel gesucht wurden, meldete ich mich. In Deutschland und in Frankreich wurden wir militärisch ausgebildet. Unser Schiff erreichte Haifa an jenem 15. Mai 1948, da die Engländer ihr Mandat aufgaben.

Die Vereidigung von uns Freiwilligen auf die Fahne des Staates Israel war der bewegendste Augenblick meines Lebens, ich danke dem Schöpfer dafür noch heute. 2.000 Jahre hatten wir Juden auf diesen Moment gewartet – und nun durfte ich selbst dabei sein. Das war eine unglaubliche Genugtuung. Denn 1945 hatte ich bei einer Reise nach Chelm erfahren, dass meine gesamte Verwandtschaft ums Leben gekommen war.

Weil sich der Staat praktisch nicht um seine ehemaligen Kämpfer kümmerte, ging ich anderthalb Jahre später zurück nach Deutschland, auf eine Annonce hin schließlich nach Dresden, weil dort Dolmetscher gesucht wurden. Ich sprach ja Russisch und Polnisch und lernte Deutsch. So wurde ich später Staatsbürger der DDR, war jedoch nie in einer Partei. Ich hielt mich zurück und war dienstlich viel unterwegs, ich hatte meine Familie.

Als Dolmetscher betreute ich in den kommenden Jahrzehnten sehr viele sowjetische Ingenieure, in der DDR wurde nach Erdöl gesucht, so kamen Spezialisten. Deshalb habe ich kürzlich beim Anschauen der Fernsehnachrichten über die Ölpest im Golf von Mexiko immer genau gewusst, was da als nächster Schritt folgen würde.

ALLTAG Das Fernsehen ist überhaupt eine große Bereicherung für mich. Ich schaue fast ausschließlich Phoenix – Reiseberichte, Geschichtssendungen und Reportagen. Filme interessieren mich gar nicht. Politik aber umso mehr.

Heute, da meine Wohnung mitten im Zentrum von Dessau liegt, über einen Fahrstuhl verfügt, die Wege in die Geschäfte, zum Arzt und zur Bibliothek kurz sind, bin ich viel außer Haus. Natürlich kommen auch meine Tochter, die als Chefsekretärin in einem Krankenhaus arbeitet, und meine beiden Enkel oft vorbei. Es geht mir den Umständen entsprechend gut. Wenn nur das Problem mit dem Hören nicht wäre. Wenn ich mich in kleinen Runden unterhalte, klappt das gut. Nur, wenn viele durcheinanderreden, versagt das Hörgerät.

Jeden Freitag gehe ich zum Gottesdienst in die Gemeinde. Dort gibt es fast nur Zuwanderer. Dass ich Russisch spreche, hilft mir sehr – auch wenn mir manche Vokabel inzwischen fehlt.

Ich denke viel über mein Leben nach. Das ist wohl dem Alter geschuldet. Ich bin zufrieden mit dem, wie es ist, freue mich an Kleinigkeiten. Im Frühjahr gab es eine besondere Überraschung. Irgendwie hatte die russische Botschaft von mir erfahren, vermutlich lief es über die Gemeinde. Auf jeden Fall kam zum 65. Jahrestag der Befreiung ein Diplomat und überreichte mir einen Orden. Das hat mich berührt. Denn es war ja eine wichtige Zeit meines Lebens.

Ich habe inzwischen per Hand auf 30 Seiten meine Memoiren niedergeschrieben. Ich habe mit aller Kraft, die ich noch besitze, möglichst jedes Detail festgehalten. Mein Bericht ist nicht vollständig, aber er legt aufrichtig Zeugnis ab von meinen Erinnerungen an die Schoa und das Leben in den Jahren danach. Aber wem, außer meinen Enkeln, soll ich diesen Bericht zum Aufbewahren übergeben?

Aufgezeichnet von Steffen Reichert

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