Die Gesellschaft verändert sich. Zu spüren ist dieser Wandel überall – auch in den jüdischen Gemeinden dieser Republik. Wie sich diese entwickeln, dazu hat die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) jüngst ihre neue Statistik veröffentlicht. Sie liefert einen Blick in aktuelle, aber auch schon länger anhaltende Trends, die sich innerhalb der jüdischen Gemeinden und Landesverbände Deutschlands abzeichnen.
Wie viele Menschen verlassen die Gemeinden, und wie viele kommen neu hinzu? Wie verteilen sich die Altersgruppen? Und welche Entwicklungen zeichnen die vergangenen Jahrzehnte? So viel sei vorweggenommen: Die Anzahl der Gemeindemitglieder schrumpft. Doch ein differenzierter Blick auf die Zahlen lohnt sich – ebenso ein Blick auf die Chancen, die sich künftig bieten.
entwicklung Zu Beginn das Erfreuliche: Heute sind etwa 91.000 Mitglieder in den insgesamt 105 Gemeinden registriert. Also mehr als dreimal so viele wie noch im Jahr 1990. Großen Zuwachs brachte kurz darauf das Ende der Sowjetunion. Für viele jüdische Menschen führte der Weg nach Deutschland, hinein in die Gemeinden. Die größte Welle kam im Jahr 1996, sie brachte mehr als 10.000 neue Mitglieder – bis heute ein Rekord.
Im Jahr 2006 zählten die Gemeinden 107.794 Mitglieder und erreichten damit den Höhepunkt. Angesichts dieser großen Zahl antwortete die jüdische Gemeinschaft mit dem Ausbau umfangreicher Infrastrukturen. Jene Strukturen werden laut ZWST-Direktor Aron Schuster auch zukünftig keineswegs überflüssig sein.
Im Gegenteil: »Die Gemeinden haben sich damals diverser für die verschiedensten Zielgruppen aufgestellt, um besser helfen zu können.« Dieses differenzierte Angebot habe bis heute Bestand und werde intensiver nachgefragt, so Schuster. Sei es bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen oder bei beeinträchtigten Gruppen.
Bestehende Strukturen der Gemeinden werden in Zukunft keineswegs überflüssig sein.
Seit dem Höhepunkt in den frühen 2000er-Jahren flacht die Kurve zunehmend ab. Mit 1352 neuen Mitgliedern zeigte sich 2021 ein Negativrekord: Noch nie gab es so wenige Neuzugänge. Zudem sind 2021 in fast allen Gemeinden – bis auf Brandenburg – mehr Menschen abgegangen als neue dazugekommen. Der demografische Wandel wirkt sich wie bei anderen gesellschaftlichen Strömungen auch auf die jüdische Gemeinschaft aus. Die Zahlen zeigen nämlich, dass die meisten Abgänge im letzten Jahr keine bewusst gewählten Austritte waren, sondern Todesfälle.
Im Hinblick auf die Altersgliederung aller Gemeinden zeigt sich zudem: Die meisten Mitglieder sind 50 Jahre und älter. Am stärksten vertreten sind Personen im Alter von 60 bis 70 und 70 bis 80 Jahren. Zusammengerechnet sind es mehr als 30.000 Mitglieder in besagtem Alter.
nordrhein Wirft man einen Blick auf die Gemeinschaft am Nordrhein mit gut 15.000 Mitgliedern, ist sie die größte im Land. Sie verzeichnete 2021 etwa 500 Abgänge, von denen mehr als die Hälfte auf Todesfälle zurückgehen. 186 Personen wechselten in andere Gemeinden. Dass die gerade einmal 34 Geburten dann eher die Wirkung eines Tropfens auf den heißen Stein haben, dürfte kaum verblüffen. Auch die knapp 140 neu dazugekommenen Mitglieder können die höhere Zahl der Verstorbenen oder Weggezogenen kaum aufwiegen.
Auf die wachsende Zahl älterer Mitglieder haben viele Gemeinden inzwischen reagiert, erklärt Schuster: »Es gibt immer mehr Konzepte, gerade von kleinen und mittelgroßen Gemeinden, bei denen es um eine Kooperation mit vollstationären Einrichtungen der Altenpflege oder um mobile Versorgung älterer Gemeindemitglieder geht. Da machen sich viele auf den Weg.«
Dennoch stellt sich die Frage, wie eine zunehmend älter und kleiner werdende Gemeinschaft langfristig erhalten bleiben kann. Wo werden die Gemeinden in einigen Jahrzehnten stehen? Aron Schuster zeigt sich zuversichtlich und stellt klar, dass die Erhebung nicht der Verunsicherung dienen soll und er ebenso wenig eine Gefahr für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erkennt. Vielmehr weist er darauf hin, dass es eine neue Form der Zusammenarbeit braucht. Beispielsweise betreut die Gemeinde in Frankfurt am Main den Standort Bad Homburg mit. »Das sind mögliche Konzepte, mit denen Synergien besser genutzt und Ressourcen effektiver eingesetzt werden können.«
neuzugänge Auch die Berliner Gemeinde wird kleiner und älter. Allerdings gab es dort neben Frankfurt, Nordrhein-Westfalen und München die viertmeisten Neuzugänge. Zudem zog keine andere Gemeinde so viele Juden aus dem Ausland an wie die der Hauptstadt. Insbesondere junge Israelis kommen gern in die Metropole. Wie viele von ihnen der Gemeinde beitreten und wie viele dies unterlassen, ist allerdings nicht bekannt.
Nicht außer Acht gelassen werden darf hier zudem die Tatsache, dass Berlin als schnell wachsende Weltstadt vielfältigste Angebote, Gruppierungen, Vereine und dergleichen zu bieten hat– auch für Juden, die für Anschluss und Betreuung nicht nur auf das Angebot der Gemeinden zurückgreifen können.
Spannend dürfte die ZWST-Statistik für das Jahr 2022 werden. Wie wird sich der Krieg gegen die Ukraine auf die jüdischen Gemeinden hierzulande ausgewirkt haben?
Spannend dürfte die ZWST-Statistik für das Jahr 2022 werden. Die zentrale Frage lautet hier schließlich: Wie wird sich der Krieg gegen die Ukraine auf die jüdischen Gemeinden hierzulande ausgewirkt haben? Aron Schuster versichert im Gespräch mit dieser Zeitung, dass für die kommende Erhebung dieser Frage explizit nachgegangen werden wird.
Über den aktuellen Stand hält er fest: »Es ist schwer, ein abschließendes Bild zu zeichnen, weil wir ja mittendrin sind und als ZWST, auch im Auftrag des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge, die Anträge als sogenannte jüdische Zuwanderer erst einmal auf die jüdische Herkunft prüfen.« Eine erste Prognose ließe sich daher zwar nicht stellen, aber »wir sind dauerhaft mit der Bearbeitung von Anträgen konfrontiert«.
Zukunft Um das Gemeindeleben für jüngere Menschen auch in Zukunft attraktiv zu halten, plädiert Schuster dafür, dass die nachfolgenden Generationen mehr Raum für Mitgestaltung bekommen sollten. Ein anderer unumgänglicher Aspekt sei aber auch, dass in jungen Lebensphasen eine Gemeinde generell weniger in Anspruch genommen werde, »weil möglicherweise der Wohnort häufiger wechselt oder andere Prioritäten im Vordergrund stehen«.
Dies ändere sich aber oft, wenn es zur Familiengründung kommt. Gemeinden werden dann unter anderem durch das Angebot der Kinderbetreuung wieder interessanter. »Hier gezielt anzusetzen, ist ein Schlüsselfaktor für die Zukunft«, so der ZWST-Direktor.
Damit dürfte er gar nicht so falsch liegen. Denn erst vor wenigen Tagen teilte das Statistische Bundesamt mit, dass die Geburtenrate in Deutschland 2021 erstmals seit Jahren wieder deutlich angestiegen ist. Setzt sich dieser Trend langfristig fort, wird das auch in der jüdischen Gemeinschaft zu spüren sein.