In der Regel haben sie gar nicht nachgedacht, sondern einfach gehandelt», berichtet die Münchner Rechtsanwältin und Fotografin Lydia Bergida vor den Gästen im voll besetzten Hauptsaal des Justizpalastes. «Helfen war ihnen ein menschliches Bedürfnis, eine ganz natürliche Selbstverständlichkeit.» So schildert sie die Motivation der «Gerechten unter den Völkern», von der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ausgezeichnete nichtjüdische Retter, die in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors unter Lebensgefahr Juden vor der Ermordung bewahrten. Etwas mehr als 28.000 Menschen erhielten diesen Ehrentitel, weniger als 100 dieser Gerechten sind heute noch am Leben. Zusammen mit dem Fotografen Marco Limberg besuchte Bergida 17 von ihnen in Warschau.
In ihren eigenen vier Wänden, oft in Anwesenheit von Familienmitgliedern, wurden die Retter nach ihren Motiven, Werten und Botschaften für die Gegenwart befragt und in der entstehenden vertrauten Stimmung porträtiert. «Wir hoffen, die Menschen mit diesen Bildern nahbar zu machen», erklärte Limberg, Artdirector der Jüdischen Allgemeinen, auf der Vernissage. Wie sehr dies gelungen ist, kann man ab sofort in der Haupthalle des Justizpalastes nachvollziehen, wo die Ausstellung Auf derselben Seite – Die Letzten der «Gerechten unter den Völkern» eröffnet wurde. Zu sehen sind fotografische Erzählungen und Porträts, die von Texten zur Rettungsgeschichte begleitet werden. Originale Tonaufnahmen der Porträtierten machen deren Stimmen für die Besucher zugänglich.
Unter den Gästen der Ausstellungseröffnung waren neben einiger politischer Prominenz einschließlich der israelischen Generalkonsulin Talya Lador-Fresher auch die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, die selbst nur dank der Hilfe einer nichtjüdischen früheren Mitarbeiterin ihres Onkels den Holocaust überlebte. Ebenfalls vor Ort waren Andrzej Sitkowski und Joanna Bąk. Sitkowski, heute 95, war 15 Jahre alt, als seine Familie eine jüdische Familie versteckte, Bąk ist Nachfahrin von Gerechten unter den Völkern und in Polen in deren Verbandsarbeit aktiv.
Justizminister Georg Eisenreich bezeichnete es als eine «besondere Ehre», Sitkowski «persönlich bei der Ausstellungseröffnung begrüßen zu dürfen».
Justizminister Georg Eisenreich bezeichnete es als eine «besondere Ehre», Sitkowski «persönlich bei der Ausstellungseröffnung begrüßen zu dürfen». Er erinnerte an den großen Mut der Retter, der sie zu einem «leuchtenden Vorbild der Menschlichkeit» gemacht habe. Die Fotos der Ausstellung hätten somit eine doppelte Bedeutung: Sie thematisieren das Leid der Vergangenheit und appellieren an die Verantwortung in der Gegenwart. Im Hinblick darauf, «wie wenige heute in einer Demokratie den Mut haben, sich einzusetzen», sei die Leistung der Porträtierten umso bemerkenswerter.
Hans-Joachim Heßler, Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts München, erinnerte daran, dass aktive Hilfe in der Zeit des Nationalsozialismus selten war: «Aus Deutschland kommen vergleichbar wenige Retter.» Umso klarer zeigten die Gerechten unter den Völkern, «was möglich gewesen wäre». Insofern sei es bedeutsam, dass die Gedenkstätte Yad Vashem «an diese Beispiele ebenso erinnert wie an die Verbrechen».
Denselben Ton schlug auch Charlotte Knobloch an. Sie unterstrich, dass jeder Einzelne eine Wahl gehabt habe: «Egal, wie oft Täter und Mitläufer sich selbst und andere nach 1945 vom Gegenteil zu überzeugen versuchten: Jeder konnte sich entscheiden zu helfen. Niemand war verpflichtet, zum Gehilfen des Mordes zu werden, niemand musste wegschauen. Und niemand musste sein Mitgefühl gegen Feigheit und Opportunismus eintauschen.»
Charlotte Knobloch erinnerte daran, wie gering die Zahl der Helfer war.
Auch Knobloch erinnerte daran, wie verschwindend gering die Zahl der Helfer unter den europäischen Bevölkerungen war und dass die meisten jüdischen Menschen vergeblich auf lebenswichtige Unterstützung und Hilfe warteten. Ihr stehe Kreszentia Hummel vor Augen, der sie ihr eigenes Leben verdanke und die erst nach der Jahrtausendwende posthum als Gerechte unter den Völkern anerkannt wurde.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Ludwig Spaenle, der die Ausstellung zusammen mit der Brodt Foundation und dem Förderverein NS-Dokumentationszentrum unterstützt, machte in seiner Rede nachdrücklich klar, dass «damals alle gewusst haben, was mit ihren jüdischen Nachbarn passiert ist». Und doch habe fast niemand gehandelt.
Auch die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland sei eine Geschichte des «kollektiven Wegsehens» gewesen, so Spaenle. Vielmehr habe sich die Illusion in großen Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft verbreitet, eigene Familienmitglieder hätten Widerstand geleistet. Unter dem Eindruck seines eigenen Israel-Besuchs kurz nach dem 7. Oktober 2023 und dem gescheiterten Anschlagsversuch auf das israelische Generalkonsulat am 5. September warnte Spaenle: «Wir müssen aufpassen.»
Mit einem ähnlichen Appell hatte zuvor auch Charlotte Knobloch geschlossen: So viele Jahre nach dem Holocaust falle es «mit jedem Tag schwerer, diese Geschichten zu erzählen», nicht nur, weil immer weniger Menschen sie erzählen könnten, «sondern auch, weil immer weniger potenzielle Zuhörer noch ein Interesse an ihnen haben». Bei den letzten Gerechten, denen sich die Ausstellung widme, dürfe es deshalb nicht bleiben. In einer Zeit des wiederaufflammenden Antisemitismus und Fremdenhasses forderte die Gemeindepräsidentin unmissverständlich: «Wir brauchen neue Gerechte.»
Die Ausstellung ist bis 15. November im Justizpalast (Prielmayerstraße 7) montags bis donnerstags von 9 bis 15 Uhr, freitags von 9 bis 14 Uhr zu sehen. Eintritt frei