Estrongo-Nachama-Preis

»Vorbild für Rabbiner-Generationen«

Zentralratspräsident Josef Schuster (l.) mit Rabbiner Andreas Nachama, Rabbiner Henry G. Brandt und der Vertreterin der Meridian-Stiftung Foto: Gregor Zielke

Für ihn waren alle nach Berlin-Charlottenburg gekommen: Politiker, Rabbinerkollegen, Kantoren, Vertreter der Kirchen, der Öffentlichkeit und des gesellschaftlichen Lebens. Denn Henry G. Brandt ist »ein Glücksfall« – für Deutschland wie auch für die jüdische Gemeinschaft, wie der frühere Bundespräsident Horst Köhler einmal sagte.

Laudatio Es ist ein Zitat, das an diesem Abend noch oft zu hören sein wird, unter anderem in der Laudatio von Zentralratspräsident Josef Schuster. Mindestens ebenso oft werden die Gäste sich von ihren Stühlen erheben, um Henry G. Brandt zu würdigen.

Denn Brandt hat jüdisches Leben in Deutschland und jüdisch-christlichen Dia­log geprägt wie kaum ein anderer. 14 Jahre lang stand er der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland (ARK) vor, und zwar seit ihrer Gründung 2004.

Und ihm sei es überhaupt zu verdanken, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster später, »das Verhältnis zwischen Juden und Christen verbessert, ja überhaupt auf ein solides Fundament des gegenseitigen Respekts gestellt« zu haben. Dafür erhielt der renommierte Rabbiner am Mittwoch vergangener Woche den »Estrongo Nachama Preis für Toleranz und Zivilcourage 2019«.

NASMENSGEBER Der »Estrongo Nachama Preis für Toleranz und Zivilcourage« wurde 2012 von der Stiftung Meridian ins Leben gerufen. Benannt ist er nach dem früheren Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Estrongo Nachama (1918–2000).

Henry G. Brandt wirkte in vielen Gemeinden in Europa, darunter Leeds, Zürich und Göteborg.

Die 2008 von einer Berliner Unternehmerfamilie gegründete Stiftung vergibt die Auszeichnung nach eigenen Angaben an Persönlichkeiten, die »für diskriminierte Minderheiten eintreten sowie bei rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Übergriffen nicht wegschauen«.

Preisträger waren bislang etwa Altbischöfin Margot Käßmann, der ehemalige Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, der Gründungsdirektor des Jüdischen Museums Berlin, Michael Blumenthal, sowie der ehemalige Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters.

EHRENVORSITZ Sichtlich bewegt nahm der 91-jährige Brandt die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung entgegen. Nicht weniger freute sich der Geehrte, als ihm Andreas Nachama, sein Nachfolger sowohl im Vorstand der ARK als auch im Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, im Namen der ARK deren Ehrenvorsitz übertrug.

Es freue ihn besonders, dass es Rabbiner Brandt sei, der den diesjährigen Estrongo-Nachama-Preis erhalte, sagte Andreas Nachama. Denn mittlerweile gebe es nicht mehr viele Menschen, die zusammen mit seinem Vater gewirkt haben. Henry G. Brandt ist einer von ihnen.

Brandts Lebensmotto ist ein Zitat aus dem fünften Buch Mose: »Wähle das Leben!«

Rabbiner Brandt erwiderte diese persönlichen Worte mit einer einfühlsamen Erinnerung an den langjährigen Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Wann auch immer sie zusammen amtiert hätten, seien sie einander freundschaftlich verbunden gewesen.

Die Melodien und die Atmosphäre, die der legendäre Kantor mit diesen geschaffen habe, hätten ihn nach Emigration und Verlust an seine frühen Besuche in der Großen Synagoge in München erinnert, sagte Brandt. Für ihn sei dies ein Zeichen gewesen, dass die musikalische Ausdrucksweise des Judentums, so wie er es in seiner Kindheit kennengelernt hatte, nicht untergegangen war. Mehr noch: dass eine Zukunft möglich ist.

LEBENSWEG Henry G. Brandt wurde am 25. September 1927 in München geboren. Nach der geglückten Flucht seiner Familie aus Nazi-Deutschland nach Palästina diente er – damals noch als Heinz Georg Brandt – im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 und noch bis 1951 als Flottenoffizier in der israelischen Marine.

Er kehrte nach Europa zurück, studierte in Nordirland Wirtschaftswissenschaften und arbeitete anschließend in der Auto­industrie.

»Erst 1957, im Alter von 30 Jahren und bereits verheiratet, entschloss sich Henry G. Brandt, wie er mittlerweile angliziert hieß, das Rabbinatsstudium am Leo Baeck College in London aufzunehmen«, skizzierte Josef Schuster den Lebensweg des Geehrten und betonte: »Es wäre übertrieben, ihn als Spätberufenen zu bezeichnen. Vielmehr lag es sicherlich an den Umwegen, die vielen Juden damals aufgezwungen wurden, bis sie das Leben führen konnten, das sie wollten. Wenn dies dem ›geretteten Rest‹, wie wir damals sagten, überhaupt möglich war.«

»Sein Respekt vor dem Schöpfer und vor der Schöpfung begleitet sein Wirken.« Josef Schuster

Nach dem Abschluss seines Studiums 1961 in London zog es Brandt nach Leeds in eine Reformgemeinde, die er zehn Jahre später verließ, um in Genf sein nächstes Rabbinatsamt zu übernehmen. Henry G. Brandt wirkte fortan in vielen Gemeinden in Europa, darunter Zürich und Göteborg, später übernahm er Rabbinatsämter in Hannover und Dortmund.

DIALOG Henry G. Brandt gilt als wesentliche Stimme im jüdisch-christlichen sowie im jüdisch-muslimischen Dialog. Bis heute betreut der gebürtige Münchner als Amtsrabbiner die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld. Rabbiner Brandt sei ein »Vorbild für die Rabbiner-Generationen, die ihm nachgefolgt sind. Und ich wage zu behaupten – nicht nur für liberale Rabbiner«, unterstrich Schuster.

Brandts Offenheit paare sich mit Mut – und Demut. »In allen Reden und Predigten, die ich von Rabbiner Brandt kenne, eigentlich in all seinen Äußerungen, ist sein tiefer Glaube zu spüren, der den Menschen eben nicht an die höchste Stelle rückt – sein Respekt vor dem Schöpfer und vor der Schöpfung begleitet sein Wirken«, sagte Schuster.

Dieser Wesenskern spiegele sich in seinem Lebensweg wider. »Ich kann mir sonst eigentlich keinen Rabbiner vorstellen, der gleichzeitig in der eher traditionellen Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg und in der liberalen Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld amtieren könnte«, sagte Schuster.

Nach der geglückten Flucht seiner Familie aus Nazi-Deutschland nach Palästina diente im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948.

Ob als langjähriger Vorsitzender der ARK oder als Landesrabbiner – Rabbiner Brandt habe sich »stets für die Belange des liberalen Judentums eingesetzt und zugleich Brücken zu den anderen religiösen Strömungen im Judentum gebaut«, betonte Schuster.

ZWEIFEL Er sei »zutiefst dankbar für diesen Moment, den Sie mir geschenkt haben«, sagte Rabbiner Brandt. Was berechtige ihn, eine solche Auszeichnung entgegenzunehmen, habe er sich gefragt. Denn es habe auch Misserfolge und Zweifel gegeben – nicht zuletzt mit Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung, die zeige, dass »der Antisemitismus – der Antijudaismus – wieder auf dem Vormarsch« ist. Vielerorts sei zu spüren, wie Versuche, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auszuhöhlen, die Gesellschaft bedrohen. Da frage er sich schon, was er erreicht habe.

Doch dann, sagte Brandt, schaue er auf all das Gute, das Tag für Tag geschehe – auf die Millionen von Menschen, die sich jeden Tag für das Wohl der Gesellschaft einsetzen, ob Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern oder Forscher.

Das gebe ihm Hoffnung und bestätige ihn jeden Tag aufs Neue in seinem Lebensmotto, einem Zitat aus dem fünften Buch Mose: »Wähle das Leben!« Jeder Mensch habe eine freie Wahl, persönlich Position zu beziehen. Überall. Zu jeder Zeit.

Es sind einprägsame Worte wie diese, die einmal mehr bestätigen, warum Henry G. Brandt für alle, die seinetwegen zu der Preisverleihung gekommen sind, ein Glücksfall ist.

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