Zehn Jahre ist es her, dass der Vater von Susanne Jakubowski im Alter von 85 Jahren starb. Und die Tochter, Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), stand vor einer entscheidenden Frage. Was sollte sie auf den Grabstein schreiben? Welche familiären Bezüge gibt es, wo lebte ihr Großvater, wo ist er gestorben? Zeit seines Lebens hatte ihr Vater Jan nach seinem Vater Josef Grosskopf gesucht, den er im Alter von fünf Jahren zuletzt gesehen hatte und der nach der Scheidung von seiner Frau weggezogen war. Also entschloss sich Susanne Jakubowski, die Recherchen ihres Vaters weiterzuführen und zu intensivieren.
Zunächst entschied sie sich für ein ungewöhnliches Vorgehen. »Ich nahm den alten Rasierapparat meines Vaters und schickte ihn zu einer Firma in der Schweiz, die genealogische Analysen macht«, erzählt sie. Diese Analyse ergab allerdings nichts Genaues. Jan Jakubowskis Herkunft ließ sich zwar zweifelsfrei feststellen, für die Familie Jakubowski war das aber freilich nichts Neues. »Was meinen Rechercheeifer allerdings weiter befeuert hat, war die Tatsache, dass sich viele Menschen meldeten, deren Y-DNA-Analyseanfragen eine 100-prozentige Übereinstimmung mit den Daten meines Vaters hatten«, sagt Susanne Jakubowski.
Konkretisierung Mit diesen Menschen tauschte sie sich aus und grenzte ihre Nachforschungen immer weiter ein. Irgendwo in Osteuropa lag der Ursprung all der analysierten Personen. In der heutigen Ukraine in einer Region, die zur Zeit der Schoa noch zu Polen gehörte, im Dreiländereck der ehemaligen Monarchie Österreich-Ungarn. Viele waren nach England oder in die Vereinigten Staaten ausgewandert – ein weiterer Hinweis, der für Susanne Jakubowski erneut zur heißen Spur wurde.
Eine Recherche auf dem
Internetportal Shtetl-Seeker
brachte Susanne Jakubowski weiter.
»Es gibt ein Internetportal, das sich Shtetl-Seeker nennt«, erläutert sie ihren nächsten Schritt auf dem Weg zur Fami-lienzusammenführung. Auf diesem Portal sind die Bewohner jüdischer Schtetl bis zur Zeit des Nationalsozialismus verzeichnet. Für Susanne Jakubowski, die zu dieser Zeit beim Fraunhofer-Institut arbeitete und sich dort mit der Befüllung von Datenbanken beschäftigte, war das richtige Eingrenzen bei der Recherche ein Leichtes. »Man konnte auf dieser Plattform aber auch Fragen hinterlassen, und auf diesem Weg meldete sich ein Datenbankmanager bei mir, der nach Hilfe suchte«, erzählt sie.
Brody Für die ukrainische Stadt Brody übernahm sie in den kommenden Monaten die Übertragung von Aufzeichnungen aus dem Geburten-, Heirats- und Sterberegister in die Reinschrift und die Übersetzung ins Englische, damit jeder Zugriff auf das System haben konnte. Im Geburtenregister des Städtchens Sasov fand sie so die Namen ihres Großvaters und dessen Eltern – ohne eine weitere Fährte aufzuspüren.
Ein Zufall brachte sie schließlich doch noch auf die richtige Spur. Als ihre Schwester Barbara Besucher ans Holocaust-Mahnmal am Potsdamer Platz führte, besuchte sie mit ihren Gästen auch das dortige Museum, in dem man in einer Datenbank nach Schoa-Opfern suchen kann.
»Spaßeshalber gab sie den Namen unseres Großvaters und als Ort Polen ein«, erzählt Susanne Jakubowski, »und damit hatten wir ihn tatsächlich gefunden.« Die recherchierte Liste zeigte eine Handvoll Namen, aus denen Sasov, Zloczow und Kattowitz herausstachen. Wie sich später herausstellen sollte, hatte der Halbbruder ihres Vaters, Shimon, fälschlicherweise angenommen, sein Vater sei in Kattowitz geboren. Erst 1999 hatte er die Daten in die Archive von Yad Vashem eingetragen.
Familie Zwar hatte Susanne Jakubowski bereits mehrfach nach dem Großvater im Zentralregister gesucht, allerdings als dessen tatsächlichen Geburtsort immer Zolociv ins Suchfeld eingetragen. Dank des Eintrags hatten Susanne Jakubowski und ihre Schwester nun endlich die Spur zu ihrem Großvater gefunden – und hatten plötzlich eine große Familie in Jerusalem.
»Neun Monate hatte es vom ersten Versuch gedauert, bis wir schließlich fündig wurden«, sagt Susanne Jakubowski, die noch am selben Abend mit ihrem Onkel Shimon Kontakt aufnahm. Der war sofort begeistert, dass es noch jemanden gibt, mit dem er verwandt ist. Denn ebenso wie sein Halbbruder wusste Shimon Grosskopf nicht, dass sein Vater noch eine zweite Familie hatte. Susanne Jakubowski und ihr Onkel schickten sich Fotos des gesuchten Großvaters. »Sein Sohn musste erst kommen, weil sich Shimon nicht mit Computern auskennt«, erzählt Susanne Jakubowski. Doch dann war es so weit, und die E-Mail flatterte in die Postfächer der Jakubowski-Schwestern, die gleichzeitig per Telefon verbunden auf das Foto klickten.
Mit dem Auffinden
des unbekannten Onkels war klar:
Die Geschichte ist nicht zu Ende.
»Wenn ich jetzt darüber spreche, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut«, erzählt Susanne Jakubowski. »Wir haben Tränen vergossen vor Ergriffenheit, zu wissen, die Familiengeschichte ist noch nicht zu Ende, da ist noch jemand.« Der Mann auf dem einzigen Foto, das Shimon Grosskopf noch von seinem Vater hatte, war zweifellos Jakubowskis Großvater. Die Suche hatte ein Ende. Im Sommer 2009 lernten sich die Familienteile in Israel und Deutschland kennen. Nun hörten Susanne und Barbara Jakubowski auch die Geschichte ihres Großvaters, die ihr Onkel Shimon noch erzählen konnte.
ghetto Shimon Grosskopf war 1942 zehn Jahre alt, als man ihn und seine Mutter dazu zwang, in ein jüdisches Ghetto im heute ukrainischen Zolociv zu ziehen. Aus Angst vor der Deportation versteckten sie sich dort in einer Grube, die sie gemeinsam mit ihren Nachbarn ausgehoben hatten. Eine Woche hielten sie es darin aus, doch der Durst zwang Shimon, in einer sehr frühen Morgenstunde die Grube zu verlassen, um an einem Brunnen Wasser zu holen.
Als er erkannte, dass er nicht mehr zurückkehren konnte, ohne die Versteckten zu gefährden, entschloss er sich, aus dem Ghetto zu fliehen. Er marschierte sieben Kilometer weit, bis er an das Arbeitslager kam, in dem die Nazis seinen Vater festhielten. Dieser fand ein verlassenes Haus, auf dessen Dachboden sich Shimon verstecken konnte, und brachte seinem Sohn täglich heimlich etwas Brot dorthin.
Versteck Irgendwann, als das Versteck nicht mehr sicher war, schloss sich Shimon einem 13-jährigen Jungen an, dem Bruder eines Lagerinsassen. Die Jungen versteckten sich in einem Wald, ehe sie sich den Partisanen in den Wäldern um Sasiv anschlossen. 25 Juden aus diesen Wäldern gelang es, die Schoa zu überleben. Shimon ist einer von ihnen.
Und nach all den Jahren hatte die Familie Jakubowski schließlich auch eine Lösung für den Grabstein von Jan Jakubowski gefunden. Darauf wird auch an seine Eltern erinnert: »Necha Diamant und Josef Grosskopf, ermordet in Zloczow und Auschwitz«.