»Gibt es denn etwas Schrecklicheres, als mit Weib und Kind von dem heimathlichen Heerd vertrieben zu werden und nicht zu wissen, wo man in der nächsten Nacht sein Haupt bettet, und wo man einen Bissen Brod für die Kleinen hernimmt?!« Dramatische Worte, die der Kölner Lokalhistoriker Carl Brisch im 19. Jahrhundert fand. Bezogen waren sie auf einen aufsehenerregenden Vorgang in der rheinischen Metropole, der zu Brischs Lebzeiten schon mehr als 400 Jahre zurücklag. Damals, im Herbst 1424, mussten alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde - wohlgemerkt die älteste ihrer Art nördlich der Alpen und eine der größten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen - Köln verlassen. »Auf ewige Zeiten«, wie es im damaligen Beschluss des Kölner Rates hieß.
Die Anordnung erfolgte tatsächlich schon im August des Vorjahres. Bis Ende September 1424 bekamen die Kölner Juden danach Zeit, ihren Besitz zu veräußern und die Stadt zu verlassen. Gründe wurden keine angegeben. Und zum 1. Oktober 1424 endete das jüdische Leben in der Domstadt für fast 400 Jahre.
In Köln traf die Ausweisung 30 steuerzahlende Familien. Der Rat der Stadt erlaubte immerhin den Betroffenen, ihr Hab und Gut mitzunehmen, statt sie zu enteignen und auf diese Weise Profit zu machen. Die Kölner Synagoge wurde nach der Vertreibung sofort umgebaut zur Ratskapelle Sankt Maria in Jerusalem.
Leidtragende eines Machtkampfes
Lokalhistoriker Brisch, als Sohn einer jüdischen Familie im heutigen Polen geboren, kam als junger Mann als Lehrer nach Mülheim, heute ein rechtsrheinischer Stadtteil von Köln. Dort gab er Religionsunterricht für jüdische Kinder der Gemeinde und forschte außerdem zur Geschichte des Judentums in Köln. Sein ab 1879 in zwei Bänden erschienenes Werk »Geschichte der Juden in Cöln und Umgebung aus ältester Zeit bis auf die Gegenwart« war die erste wissenschaftliche Publikation zum Thema.
Brisch deutet die Ereignisse hauptsächlich als Folge eines Machtkampfes zwischen den Kölner Stadtmagistraten und ihrem Erzbischof, in dem die Juden die Leidtragenden waren. Tatsächlich kam dem Erzbischof, damals Dietrich von Moers, die Schutzherrschaft über die Juden in seinen Landen zu - und Clinch zwischen Kurköln und Stadt Köln zieht sich ohnehin durch die gesamte Stadtgeschichte. Es ist wohl insofern nicht falsch, die Vertreibung auch als Demonstration des Selbstbewusstseins der Stadt gegenüber dem Erzbischof und dem Kaiser zu sehen.
Andererseits verzichtete die Stadt durch die Ausweisung bewusst auf Steuereinnahmen, was eher gegen ein reines politisches Kräftemessen spricht. Zudem war es zu diesem Zeitpunkt noch keine 80 Jahre her, dass im Zuge der großen Pestepidemie 1349 fast alle Kölner Juden durch den aufgebrachten Pöbel ermordet wurden. Dass Brisch als jüdischer Historiker im 19. Jahrhundert gegenüber Stadt und Erzbischof, den er den Juden als zugeneigt beschreibt, einen eher vorsichtigen Ton anschlägt, ist indessen wenig verwunderlich.
Ob Erzbischof von Moers nun tatsächlich ein Freund der Juden war, sei dahingestellt. Seiner Schutzherrenpflicht kam er zumindest nach. Zwar zog wohl - entgegen Brischs Schilderung - ein Großteil der Kölner Juden nach Frankfurt, das als eine der wenigen Reichsstädte seine jüdische Gemeinde nie auswies, oder weiter nach Osten. Doch einige setzten auch nur über den Rhein über und ließen sich unter dem Schutz des Erzbischofs im damals noch eigenständigen Deutz nieder.
Neustart in Frankfurt und Deutz
In der Folge entwickelte sich Deutz rasch zum Zentrum der kurkölnischen jüdischen Gemeinde. Der Deutzer Rabbiner durfte zunächst den Titel »Landesrabbiner von Cöln« führen, erst ab den 1580er Jahren ging dieser Titel nach Bonn, was kurz darauf auch offizielle Residenzstadt der Erzbischöfe wurde.
Ab 1426 stand der Gemeinde in Deutz eine Synagoge zur Verfügung, 1784 wurde sie beim Eishochwasser zerstört, zwei Jahre später ein neues Gotteshaus geweiht. Dieses musste 1914 dem Bau der Deutzer Brücke weichen, ein jüdisches Gemeindezentrum wurde an anderer Stelle errichtet. Die dritte Synagoge schließlich wurde im Zuge der Novemberpogrome 1938 zerstört, der damalige Rabbiner Julius Simons mit seiner Frau und einem seiner drei Söhne deportiert und von den Nationalsozialisten ermordet.
Heute befindet sich keine Synagoge mehr in Deutz. Vom jüdischen Leben, das dort einst gegenüber von Köln überleben konnte - im 17. Jahrhundert machten die rund 65 Deutzer Juden etwa zehn Prozent der dortigen Bevölkerung aus -, zeugt heute vor allem noch der Jüdische Friedhof.
Aufhalten durften sich die Deutzer Juden zumindest am Tag auch im gegenüberliegenden Köln - allerdings nur mit einer Sondergenehmigung, die sich die Stadtverwaltung teuer bezahlen ließ. Die endgültige Rückkehr ließ die Stadt am Rhein, die sich heutzutage gerne ihrer großen Toleranz rühmt, erst nach dem Ende der reichsstädtischen Zeit im Jahr 1798 zu. Mehr als 7.000 Kölner Juden wurden im Holocaust getötet. Heute zählt die jüdische Gemeinde der Stadt wieder knapp 4.000 Mitglieder.