Mode

Von wegen oberflächlich!

»Der Sinn von Tzniut ist, dir ein echtes Selbstbewusstsein zu verleihen.«

Ita Afanasev (41)

Ich habe auf diesem Gemeindetag einen Schiur zum Thema Mode und Judentum gegeben, weil das ein wirklich tiefes, gar nicht oberflächliches Thema ist. Im Judentum gibt es diese Idee: Das, was der Körper für die Seele ist, ist die Kleidung für den Körper. Das Wort für Kleid im Hebräischen besteht aus drei Buchstaben: Bet, Gimmel, Dalet. Der zweite, dritte und vierte Buchstabe des Alphabets. Der erste, das Alef, bleibt verborgen. Alef, der Buchstabe, den wir alleine gar nicht aussprechen. Wofür steht dieses Alef? Es steht für uns selbst, für unsere Seele. Es klingt erst einmal widersprüchlich, aber indem wir uns bedecken, decken wir auch etwas auf: unser Innerstes, unseren Charakter, unser Menschsein. Unser Körper lenkt da nur ab. Frauen werden in unserer Gesellschaft immer noch zum Objekt gemacht. Die jüdischen Kleidungsvorschriften sollen dafür sorgen, dass dies nicht passiert. Das will ich auch in meinem Schiur rüberbringen: Du bist nicht schön, wenn die Bestätigung von außen kommt, du musst niemandem etwas beweisen.
Der Sinn von Tzniut ist nicht, dich einzuschränken, sondern dir ein echtes Selbstbewusstsein zu verleihen. Ich selbst habe in der Abiturzeit angefangen, mich orthodox zu kleiden. Ich war auf einer Reise in Israel und dachte, wenn ich an diesem heiligen Ort bin, möchte ich auch einen Rock anziehen. Danach habe ich ihn nicht wieder ausgezogen. Es war mir wichtig, mich authentisch, passend zu meiner religiösen Identität zu kleiden, und nicht so, wie andere es cool finden. Die Kleider sind eine Sprache, die meinem Inneren einen eloquenten Ausdruck gibt.

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»Ich besitze fast so viele Ohrringe, wie es Tage
im Jahr gibt.«

Sarah Marcus (34)

Dieses Outfit war das erste, was ich mir gekauft habe, als ich angefangen habe, so richtig professionell zu arbeiten. Es sollte ins Büro passen, wie ein schicker Hosenanzug, aber anders. Es sollte meine Religiosität und meinen Charakter ausdrücken: deswegen Rock statt Hose und grün statt schwarz. Selbst die Ohrringe müssen ins Farbschema passen. Das ist übrigens nicht schwer, ich besitze fast so viele Ohrringe, wie es Tage im Jahr gibt: über 320 Paar. Mein Mann ist ähnlich drauf, er hat Westen, Krawatten und Fliegen in allen möglichen Farben. Auch zu unserer Hochzeit haben wir uns farblich abgestimmt.
Bevor ich religiös geworden bin, habe ich viel mehr Dunkles getragen, hatte als Jugendliche auch eine Phase, in der ich mir die Haare schwarz gefärbt habe und Grusel-Outfits gut fand. Heute will ich mit meiner bunten Kleidung eine positive, hoffnungsvolle Botschaft ausstrahlen! Seitdem ich verheiratet bin, bedecke ich auch meine Haare: im Sommer gern mit Hut, im kalten Winter mit Mütze. Drinnen trage ich im Alltag einfach einen Haarreif. Für viele ist das wahrscheinlich gar nicht erkennbar, aber für mich ist es ein Zeichen meines Glaubens. Wenn ich bete, in die Synagoge gehe, verhülle ich meine Haare gern etwas mehr, ich trage dann ein breiteres Tuch oder eine Baskenmütze. Mein Mann fand das erst einmal nicht so gut: Er hatte Angst, dass die Leute dann denken, er hätte mich dazu gezwungen. Dabei liebe ich Kopfbedeckungen, und ich war sehr froh, nach meiner Heirat dieses Gebot in meiner eigenen, bunten Art und Weise auszuführen.

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»Zum Gemeindetag habe ich nur zwei Hüte mitgenommen.«

Nadja Djanatliev (36)

Glauben Sie mir, in meinem Kleiderschrank finden Sie alles: elegant und sportlich, Abendkleid und Jogginghose. Aber zum Gemeindetag wollte ich etwas Elegantes anziehen, dem Anlass entsprechend. Es ist für mich ein ganz besonderes Event. Ich ziehe immer an, wonach ich mich fühle. Aber ich fühle mich auch so, wie ich mich kleide. Deswegen ist mir sehr wichtig, was ich trage, und ich überlege schon am Abend, in welcher Kleidung ich in meinen nächsten Tag starten will. Das habe ich auch an meine Tochter vererbt. Sie ist erst sechs Jahre alt und sucht sich trotzdem selbst die Klamotten aus – sonst gibt es ein Theater! Ich lasse sie machen – denn ich finde, es ist gar keine oberflächliche Entscheidung, sondern ihre Wahl, wer sie selbst an diesem Tag sein will. Es ist ein Mittel, sich selbst auszudrücken und seine Identität zu finden. Auch für mich. Ich bin Bergjüdin, aus dem Nordkaukasus. Ich ziehe mich vielleicht nicht orthodox an, aber ich trage meine jüdische Identität im Herzen und oft auch als Davidsternkette um den Hals. Das ist übrigens eines der wenigen Stücke, die ich nicht demonstrativ für alle sichtbar trage, sondern meistens unter dem Hemd. Ich trage sie für mich, sie ist kein Modeaccessoire wie jedes andere.
Mir war mein Sinn für Mode und Ästhetik schon früh bewusst, und ich habe mich entschieden, eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau im Bereich Make-up zu machen. Schminke und Outfit müssen für mich immer zusammenpassen. So wie heute mein roter Blazer und der Lippenstift. Auch Hüte liebe ich, dazu muss man auch ein bisschen Mut haben. Mein Rat an alle: Traut euch mehr! Zum Gemeindetag habe ich mich aber ein bisschen zurückgehalten und nur zwei Hüte mitgenommen. Musste ja alles ins Gepäck passen.

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»Ich bin quasi ein chassidischer Hipster, ich kombiniere secondhand und Markenklamotten.«

Valentin Lutset (34)

Ich bin Künstler. Das kleinste künstlerische Werk, das jeder Mensch jeden Tag erschafft, ist sein Erscheinungsbild. Deswegen habe ich schon in meinem Designstudium sehr darauf geachtet, was ich anziehe. Ich wollte anders sein. Nicht um aufzufallen, sondern um mich auszudrücken. Später erlebte ich einen Bruch: Ich wurde religiös, sogar streng orthodox. Was sollte ich anziehen? Die jüdische Welt ist voller Kleidungscodes. Schon ein Detail sagt etwas darüber aus, wie du deinen Glauben lebst, zu welcher Gruppe du dich zugehörig fühlst. Das ist etwas sehr Positives, denn wir verstehen uns quasi ohne Worte. Aber es hat auch eine negative Seite, nämlich, wenn man nicht genau weiß, wohin man gehört, und einem der eigene individuelle Ausdruck sehr wichtig ist. Ein paar Jahre habe ich mich an dem Mainstream-orthodoxen Stil orientiert, viel Schwarz getragen. Ich finde das schön, aber es passt einfach nicht zu mir.
Dann habe ich meinen eigenen Stil entwickelt, ich würde sagen, ich bin quasi ein chassidischer Hipster: Ich kombiniere secondhand und Markenklamotten mit religiösen Elementen. Mein Outfit heute ist das beste Beispiel: Ich trage einen langen schwarzen Marken-Hoodie ohne Ärmel, der ein bisschen an einen chassidischen Kittel erinnert – aber in lässig. Er hat mehr als vier Ecken, also habe ich eigene Zizit angenäht. Dann meine Schuhe: Ich trage weiße Crocs – eine Provokation, wenn man so will. Provokation muss nichts Schlechtes sein. Es ist eine Anregung an meine Mitmenschen. Also, wieso trage ich Crocs? Alles hat mit Jom Kippur angefangen. Da darf man keine Lederschuhe anziehen, und ich trug eben Gummi-Crocs. Diese habe ich immer noch, es sind meine Schuhe nur für Jom Kippur. Aber mir hat das so gefallen, dass ich weitere Paare gekauft habe und sie nun fast nur noch trage, im Sommer wie im Winter – dann aber natürlich mit Innenfell!

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»Mein Tuch übersteht auch eine Achterbahnfahrt!«

Karolina Becker (26)

Kleidung verrät etwas über deine Identität – das habe ich schon früh gelernt. Ich habe immer etwas Besonderes für Schabbat getragen, mich in der Synagoge ganz anders angezogen als in der Schule. Und manchmal dachte ich: Wie komisch, dass meine Mitschüler diese Seite gar nicht von mir kennen. Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen, aber meine Eltern haben mir immer den Freiraum gelassen, meine eigene Kleidung auszuwählen. Nach meiner Batmizwa habe ich immer größeren Wert darauf gelegt: Ich wollte mich »tznius« kleiden, aber auch etwas Cooles finden, etwas, das mir gefällt. Aber in den wenigen Geschäften, die es bei uns in Osnabrück gab, war das nicht so einfach. Die Mode war damals noch ganz anders: Die Stars im Fernsehen oder im Internet trugen enge Miniröcke, tiefe Ausschnitte, bauchfreie Tops. Ich habe immer versucht, diese Kleidung tznius zu machen, indem ich etwas darunter oder darüber trug. Aber so richtig gut sah das nicht jedes Mal aus. Heute ist es viel einfacher. Modest Fashion liegt im Trend: Lange schöne Kleider findet man überall. Ich trage gern Unifarben oder Schwarz, damit ich dazu meine Tücher gut kombinieren kann, die haben oft ein Muster. Seitdem ich verheiratet bin, also seit knapp einem Jahr, trage ich ein Tuch um die Haare, ich rolle es hinten zusammen, dieser Stil kam ganz natürlich. Ich finde, es umrahmt mein Gesicht ganz schön, und es ist einfach und praktisch: Ich arbeite im Labor, da sollten die Haare ohnehin aus dem Weg sein. Mein Tipp an alle, die gerade erst anfangen, ihre Haare zu bedecken: ein Samtband darunter. Dann verrutscht nichts mehr. Und das Tuch hält in allen Lebenslagen, ich hatte es sogar schon in der Achterbahn an!
Eine Sache, die ich immer trage, ist die Kette von meiner Oma. Sie hat sie noch in der Ukraine gekauft. Damit bin ich mit ihr verbunden, auch wenn ich heute in Berlin wohne und sie in Osnabrück. Eine Perücke trage ich nur zu besonderen Anlässen, zum Beispiel am Feiertag. Auch hier zum Gemeindetag habe ich meinen Scheitel mitgenommen, mal sehen, ob er noch zum Einsatz kommt. Natürlich ist es mir wichtig, schön auszusehen, aber noch wichtiger ist mir, dass ich mich wohlfühle. Auch das hat sich verändert, seitdem ich erwachsen bin: Ich trage nur Kleidung, die schön warm und wirklich gemütlich ist.

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»Schwarz-Weiß passt nicht zu mir, ich trage knallbunt.«

Sandra Anusiewicz-Baer (49)

Ohne Mode wäre ich vielleicht nie geboren: Denn meine jüdischen Großeltern haben sich in dieser Branche kennengelernt. Sie hatten eine Ledermanufaktur in Argentinien. Taschen, Gürtel, sogar mit Krokodilleder und so. Später hat unsere Familie in der DDR gelebt. Dort wurde auch ich geboren. Mein Großvater durfte als Rentner in den Westen fahren und brachte mir von dort immer schöne Kleidung mit. Auch meine Großmutter legte weiterhin Wert auf Mode, sie trug immer großen, auffälligen Schmuck. Ich habe auch versucht, in Ungarn Kleidung zu bekommen, die nicht jeder trug. Im Einheitsbrei der DDR wollte ich auffallen, zeigen, dass ich anders bin. Ich hatte sogar einmal eine Punk-Phase. Dass ich jüdisch bin, habe ich nie versteckt. Ich trug auch eine Davidsternkette, die mein Opa mir zu Weihnachten geschenkt hatte – man sieht, wir waren nicht sehr streng mit unserer Religion. Bei jüdischer Mode denkt man ja erst einmal an orthodoxe Kleidungsvorschriften, aber dieses Schwarz-Weiß, das passt nicht zu mir. Ich trage knallbunt. Die Armreife hat meine Mutter mir zu Chanukka geschenkt. Ist meine Kleidung also jüdisch? Gute Frage. Im traditionellen Sinne sicher nicht, aber sie hat eine Botschaft: Ich bin offen und neugierig, ich weiß, dass die Welt viele Facetten hat. Und das ist sicher jüdisch.

Zusammengestellt und aufgezeichnet von Mascha Malburg

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