Um vier Uhr morgens aufzustehen, ist kein Zuckerschlecken«, sagt Asaf Leshem und schaut auf seine Armbanduhr. Es ist 12.30 Uhr an einem sonnigen Montagmittag an der Schiffsanlegestelle in Berlin-Wannsee. Asaf Leshem ist seit mehr als acht Stunden auf den Beinen und hat bereits rund 78 Kilometer mit seinem hellgrünen Rennrad zurückgelegt. »Jungs, wir machen jetzt eine halbe Stunde Pause. Trinkt ordentlich was, und dann geht’s weiter«, ruft der 45-Jährige seinen beiden Begleitern zu. »Die nächste Fähre über die Havel nach Kladow geht pünktlich um 13 Uhr.«
Asaf Leshem ist gebürtig aus dem kleinen Ort Yuvalim im Norden Israels. Seit mehreren Jahren arbeitet er als Guide für historische Touren in Berlin und Brandenburg. »Angefangen habe ich mit klassischen Stadtführungen durch das Zentrum Berlins auf Hebräisch und auf Englisch«, erzählt Leshem, der 2007 zum Masterstudium nach Berlin gekommen ist und seither hier lebt.
UMLAND Der Israeli hat deutsche Wurzeln: Leshems Großvater väterlicherseits stammte aus Berlin und war 1938 vor den Nazis in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina geflüchtet. »Mit der Zeit habe ich mich bei meinen Rundgängen auf bestimmte Themen wie ›Jüdisches Leben in Berlin‹ und ›Kalter Krieg‹ spezialisiert«, erzählt der Stadtführer.
Am meisten Spaß haben dem passionierten Radfahrer immer schon die Touren mit dem Rad durchs Brandenburgische gemacht, die er auf seiner Website anbietet. »Das wunderschöne Umland ist einer der vielen Gründe, warum ich mich in Berlin so wohlfühle«, sagt der Israeli.
Für diesen Herbst hat sich Leshem eine ganz besondere Geschichtsreise überlegt. In diesem Jahr, in dem sich der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal jährt, veranstaltet er gemeinsam mit dem befreundeten Stadtführer Matthew Robinson Radtouren entlang des 160 Kilometer langen historischen Mauerwegs in Berlin und Brandenburg. »Wer diese Strecke an einem Tag schaffen will, muss in den sauren Apfel beißen und bei Sonnenaufgang anfangen, in die Pedale zu treten«, sagt Leshem.
Als Israeli kann er unbefangen an das Thema Ost-West herangehen.
Tatsächlich bietet Leshem die 160-Kilometer-Tour entlang des Mauerwegs für die ganz Sportlichen an einem Tag an. Wer sich mehr Zeit nehmen will, kann auch eine Übernachtung dazubuchen. Der Preis pro Tour richtet sich nach der Anzahl der Tage und der Größe der Gruppe. Start und Ende ist jeweils am Brandenburger Tor. Zwischendrin gibt es Stopps an den ehemaligen Grenzübergängen sowie an weiteren historisch bedeutsamen Punkten. Auch kleine Pausen – wie an der Schiffsanlegestelle am Wannsee – sind inbegriffen.
An diesem Montag gilt es, keine unnötige Zeit zu verlieren. Der Australier Tim Godfrey hat Leshem und seinen Kollegen Robinson für die kräftefordernde Eintagestour gebucht. »Ich bin seit vielen Jahren ein leidenschaftlicher Radfahrer, und den Mauerweg wollte ich schon immer einmal erkunden«, sagt Godfrey.
Der 41-Jährige kommt aus Melbourne. Seit zwei Jahren arbeitet er bei einer NGO in Berlin als Softwareprogrammierer. »Mit Asaf Leshem und Matthew Robinson habe ich zwei Profis an meiner Seite, die nicht nur super Radsportler, sondern auch Experten für die Geschichte des Kalten Kriegs in der Region Berlin und Brandenburg sind«, sagt Godfrey.
BARRIEREN An der Eintagestour entlang des Mauerwegs habe ihn besonders die sportliche Herausforderung in Kombina-tion mit dem historischen Hintergrund gereizt. »Mit jedem Kilometer lerne ich etwas über die Geschichte der Berliner Mauer dazu«, meint der australische Radfreund.
Leshems Stadtführer-Kollege Robinson freut sich über das positive Feedback. »Die Idee bei der Mauerweg-Tour ist, den Sport mit der Geschichte zu verbinden«, sagt Robinson. Entlang des Mauerwegs könne man gut erkennen, wie sich die einstige innerdeutsche Grenze in Berlin und Brandenburg der Topografie angepasst hat. »Durch Berlin verlief die Mauer als Betonwand, in Brandenburg gab es häufig bewachte Zäune, und die Flüsse wurden als natürliche Barrieren genutzt«, sagt der 34-jährige Engländer, der seit zwölf Jahren in Berlin zu Hause ist.
Bereits mehrere Male wurden Leshem und Robinson schon für die Mauerweg-Tour gebucht. Die komplette Eintagestour fahren die beiden an diesem Montag zum ersten Mal. »Ich gebe zu, dass eine Tagesfahrt von 160 Kilometern nur etwas für echte Radfreaks ist«, sagt Leshem. Dass das Konzept der Mauertour von Interessierten so gut angenommen wird, freut den Stadtführer. »Die Themen Mauer, DDR und friedliche Revolution sind für viele Deutsche und internationale Gäste äußerst sensible historische Ereignisse«, sagt er.
Er habe sich deshalb auch sehr genau überlegt, was er jeweils bei den einzelnen Stopps sagen will. »Ganz wichtig ist mir, die Freiheit, die wir heute haben, als großartige Errungenschaft hervorzuheben«, sagt der Israeli.
Zur Zeit der deutschen Teilung waren die Wege hermetisch abgeriegelt.
Man müsse sich einmal vergegenwärtigen: Dort, wo man heutzutage entspannt radeln oder spazieren gehen kann, wäre man vor 30 Jahren erschossen worden. »Die Berliner Mauer ist nicht nur eine deutsche, sondern auch eine universelle Geschichte«, sagt Leshem. Dass er und Robinson nicht in Deutschland geboren sind, sieht der radelnde Stadtführer mit Blick auf das Mauerfalljubiläum als Chance. »Als Israeli, der weder im alten West-Berlin noch in der DDR aufgewachsen ist, kann ich unbefangen an das Thema herangehen«, sagt er.
Kollege Robinson stimmt ihm zu. »Ganz gleich, woher wir kommen, heute können wir ohne Kontrolle und Schikane auf den Wegen Rad fahren, die zur Zeit der deutschen Teilung hermetisch abgeriegelt waren«, sagt der Brite.
HAVELSEITE Die halbe Stunde Pause ist inzwischen um. Die Fähre nach Kladow hat schon am Steg festgemacht. »Von der anderen Havelseite geht es dann Richtung Süden weiter nach Potsdam«, erklärt Leshem. Von da aus sind es dann nur noch 80 Kilometer bis zurück zum Brandenburger Tor. »Heute Abend werdet ihr beiden auf jeden Fall gut schlafen können«, sagt er und grinst.