Alles begann vor vier Jahren in Rio de Janeiro. Der brasilianische Kulturwissenschaftler Andreas Valentin hatte gerade ein Stipendium an der Freien Universität Berlin erhalten und war dabei, seine Wohnung vor dem Forschungsaufenthalt aufzuräumen. Für die Dauer des Berlin-Aufenthalts wollte er sein Apartment in Rio Freunden überlassen. Dabei stieß er auf Fotos, die sein Vater in Deutschland aufgenommen hatte, als dieser seine Mutter, Valentins Großmutter, 1975 nach Berlin begleitete.
Die Dias, die der Sohn fand, hatte der Vater in kleinen Schachteln verpackt, fein säuberlich mit einem Band versehen, auf dem nur ein Wort stand: Berlin. Andreas Valentin beschloss, anhand der Fotos und Dokumente die Familiengeschichte mit einem Buchkatalog aufzuarbeiten und in einer Ausstellung zu erzählen, erst in Brasilien, nun in Berlin. Bis Ende Juli zeigt das Haus am Kleistpark in Berlin-Schöneberg die Ausstellung unter dem Titel Berlin – Rio: Spuren und Erinnerungen. Es ist eine deutsch-jüdische Familiengeschichte, die exemplarisch von Aufstieg, Verfolgung und Emigration erzählt.
Während Andreas Valentin redet, dringen vom Stockwerk tiefer Klaviertöne aus der dortigen Musikschule hoch in die Kunstgalerie. Valentin deutet auf eine Ausstellungswand mit mehreren Bildern. Eines davon zeigt viele elegante Menschen, die vor einem älteren Herrn stehen. Es ist der 70. Geburtstag von Kommerzienrat Valentin Manheimer, Valentins Ururgroßvater. Das Ölgemälde von Anton von Werner, das heute im Deutschen Historischen Museum in Berlin hängt, entstand 1887. Hier setzt die Ausstellung ein.
ururgroßvater 1839 gründete Valentin Manheimer, Sohn eines Kantors, in der Berliner Oberwallstraße eine der ersten Fabriken für Damenkonfektion in der Hauptstadt. Als erfolgreicher jüdischer Unternehmer gelang ihm der Aufstieg in die Oberschicht der bürgerlichen Gesellschaft. Zuletzt hatte er mehr als 8000 Angestellte. Knapp 100 Jahre später musste sein Enkel, der Orthopäde und Medizinhistoriker Bruno Valentin (1885–1969), Großvater von Andreas Valentin und damals 54 Jahre alt, vor den Nazis nach Brasilien fliehen.
Vom Ururgroßvater zum Großvater – die nächsten Bilder in den Schöneberger Ausstellungsräumen zeigen Brunos Geschichte, die in Berlin beginnt: Er heiratet Martha Hellman, die er bei seinem Medizinstudium in Würzburg kennenlernt, die beiden Kinder Hedwig und Gerhard kommen zur Welt. Sie sind auf einem anderen Bild mitten in der Natur zu sehen – die Familie feiert da in Köpenick den Goldenen Hochzeitstag der Eltern.
Daneben hängen Bilder vom Ersten Weltkrieg, als Bruno als Arzt Dienst tat. Später wurde er »Landeskrüppelarzt der Provinz Hannover« – so heißt es auf der Website des Annastifts, wo er nach dem Krieg eine Stellung antrat. Als solcher fuhr er bis in die letzten Winkel Niedersachsens, um »Krüppel«, meist Kriegsversehrte, zu untersuchen. Im Annastift war Bruno als Chefarzt und als außerordentlicher Professor zudem an der Tierärztlichen Hochschule Hannover tätig.
emigration Und dann kommt der Schnitt: Andreas Valentin deutet auf eine abgebildete Karte – Umzug in eine Privatpraxis 1936. Das Annastift konnte den jüdischen Chefarzt nicht mehr halten und entließ ihn. Schließlich kam das Berufsverbot. Brunos Sohn Gerhard war nach dem Abitur nach Hamburg gezogen und arbeitete bei einem Versandunternehmen. Jeden Sonntag schrieb er den Eltern einen Brief. Er war unternehmungslustig, kaufte sich ein BMW-Motorrad, um die Eltern zu besuchen und Deutschland zu erkunden. Während Bruno nicht mehr praktizieren durfte, erhielt Gerhard ein Arbeitsangebot aus Brasilien.
»Er versuchte, seine Eltern zu überreden, mit ihm zu emigrieren«, erzählt Andreas Valentin. Der Vater stimmte zu. So kam es, dass Bruno und Gerhard – Gerhards Mutter Martha blieb vorerst in Deutschland – mit dem Schiff »Highland Patriot« ablegten. Dabei entstand das wohl aussagekräftigste Foto der Ausstellung: Es zeigt, wie Bruno durch das Fernglas auf die Küste Portugals schaut, während er den europäischen Kontinent hinter sich lässt.
Neben diesem Foto, das den entscheidenden Wendepunkt im Leben der Familie festhält, hängt die erste Zeichnung von Georg Höltje, einem Freund der Familie. Er zeichnete Vater und Sohn, wie sie das Schiff betreten – von da an begleiten seine Zeichnungen die Familie. Sie zeigen die beiden, wie sie in Rio ankommen, Bruno, wie er einen wissenschaftlichen Vortrag in der Akademie hält, und wie Vater und Sohn mit dem Auto durchs Land fahren.
Bruno reist noch einmal nach Deutschland und holt seine Frau nach, laut Andreas Valentin »keine Sekunde zu früh«. Denn kurz nach ihrer Abreise wurden sie von der Gestapo vorgeladen. Das Schreiben hängt ebenfalls in der Ausstellung. Etwa zur gleichen Zeit emigrierte die junge jüdische Tänzerin und Kunstturnerin Judith Kaiser aus München mit ihrer Mutter Anna nach Brasilien. Bei mehrtägigen Expeditionen in den Bergen, vier Stunden von Rio de Janeiro entfernt, begegnet sie Gerhard zum ersten Mal. Sie heiraten, Sohn Andreas wird geboren.
rückkehr Gerhard arbeitete als Geschäftsführer, während sein Vater Bruno als Arzt nicht mehr Fuß fassen konnte. Stattdessen verlegte er sich aufs Schreiben wissenschaftlicher Artikel. 1961 veröffentlicht er die Geschichte der Orthopädie. Wovon seine Großeltern gelebt haben, weiß Andreas Valentin nicht. Vielleicht halfen Freunde? Er zuckt mit den Schultern. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs organisierte sein Großvater jedenfalls Sammlungen mit Lebensmitteln und Kleidung für die Menschen im Annastift. 1965 wird er in Rio de Janeiro mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
1951 kehren die Großeltern zum ersten Mal nach Hannover zurück, ab 1967 wohnen sie wieder dort. Das medizinische Zentrum für Erwachsene mit Behinderung des Annastifts trägt heute Bruno Valentins Namen – wie auch ein Weg im Hermann-Löns-Park in Hannover. »Sie hatten viele Freunde und ein großes Netzwerk«, sagt Andreas Valentin.
Seine Eltern Gerhard und Judith hingegen blieben in Rio de Janeiro. An seine Großeltern hat Andreas Valentin viele Erinnerungen. In seinem Elternhaus in Rio wurde Deutsch und Portugiesisch gesprochen, bei Besuchen versuchte Bruno, dem Enkel Altgriechisch beizubringen; sie hatten ein Abonnement deutscher Zeitschriften, und für das Kind kamen immer »Walt Disneys Lustige Taschenbücher« auf Deutsch. Lange Zeit hatte Andreas Valentin die Sprache verdrängt, doch nun fällt sie ihm wieder leicht.
mode Als er für die Kuratierung der Schöneberger Ausstellung im März in Berlin ankam, fiel ihm am Zeitungskiosk die Jüdische Allgemeine auf. Er kaufte sie und fand in der aktuellen Ausgabe prompt einen Artikel über seinen Ururgroßvater Valentin Manheimer.
Für Valentin schließt sich damit gewissermaßen ein Kreis – denn nun ist er es, der mit der Geschichte seiner Familie dazu beiträgt, weitere Puzzlesteine dieser exemplarischen deutsch-jüdischen Familiengeschichte zusammenzutragen. Eines hat die Beschäftigung damit auch für ihn persönlich bewirkt: Auch er möchte, diesmal zusammen mit seiner Frau, nach Deutschland zurückkommen und länger bleiben – wie seine Großeltern.