Im Kulturreferat der Landeshauptstadt München hat – was die Geschichtsbetrachtung betrifft – schon vor einiger Zeit ein Umbau begonnen. Es wurde ein Institut für Stadtgeschichte und Erinnerungskultur geschaffen, in dem unter anderem die Koordinierungsstelle für Erinnerungszeichen angesiedelt ist.
Nun gibt es neben den Ressorts für Bildende Kunst, Literatur und Musik als Abteilung 4 den Bereich »Public History«. Zu dieser internationalen Perspektive passte bestens eine Buchpräsentation, die vor Kurzem im Historischen Kolleg stattfand. Die Historiker Andreas Heusler und Andrea Sinn stellten die von ihnen herausgegebene Publikation German Jews and Migration to the United States, 1933–1945 vor.
eröffnung Der Münchner Kulturreferent Anton Biebl eröffnete den Abend kenntnisreich und erinnerte an zwei Persönlichkeiten, die München beziehungsweise Deutschland nicht freiwillig verlassen hatten: Schalom Ben-Chorin, der vor 110 Jahren als Fritz Rosenthal hier geboren wurde, und Lion Feuchtwanger, dessen Geburtstag sich am 7. Juli 2024 zum 140. Mal jähren wird.
Beide hätten alles verloren, seien enteignet worden, so resümierte Biebl, »nicht nur materiell, sondern auch in einem übertragenen Sinne«, weil ihnen die Sprache, unverzichtbares Ausdrucksmittel als Schriftsteller, genommen worden sei. Feuchtwangers und Ben-Chorins Lebensgeschichten würden zeigen, so fuhr der Kulturreferent fort, »was erzwungene Emigration mit Menschen macht, zu welch innerer Zerrissenheit und persönlicher Tragik Heimatverlust führt«.
»Emigration und Exil lösen schmerzhafte lebensgeschichtliche Zäsuren aus.«
Andreas Heusler
Das thematisierte auch Andreas Heusler in seiner Einführung. Denn er zitierte Bertolt Brechts Gedicht »Über die Bezeichnung Emigranten« aus dem Jahr 1937, das sehr genau zwischen dem für Brecht falsch klingenden Wort »Emigrant« und der Erfahrung von »Exil« unterscheidet. Heusler fasste es so zusammen: »Exil ist eine Vertreibung auf Zeit. Exil beinhaltet auch die Option der Rückkehr. Irgendwann.«
Eines jedoch hätten beide Zustände gemeinsam: »Emigration und Exil lösen schmerzhafte lebensgeschichtliche Zäsuren aus. Die Folge von Emigration und Exil ist der Verlust von Heimat und vertrauter Kultur, der Verlust von Sprache und sozialen Vernetzungen, der Verlust von beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten und wirtschaftlicher Sicherheit.« Die Folge sei ein »unseliger Vierklang aus Fremdbestimmung, Duldung, Unsicherheit und Armut«.
LEBENSENTWÜRFE München, so führte der Historiker weiter aus, sollte eine Musterstadt des Nationalsozialismus in Deutschland werden. Die Folge waren »10.000 zerstörte Lebensentwürfe«. Seit den 90er-Jahren habe man sich eingehender damit befasst, Interviews geführt, »Egodokumente« gesammelt, worunter man Tagebücher, persönliche Korrespondenz, Memoiren und Fotoalben versteht.
Damit sei auch ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden, weg von Geschichtsbetrachtung auf Aktengrundlage, was gleichbedeutend mit Täterperspektive war, hin zur Wahrnehmung der Innensicht Betroffener. Erst dadurch sei individuelles Erleben und Erleiden von Geschichte relevant geworden und damit auch »Teil der bedrückenden Erzählung einer Alltagsgeschichte von Verfolgung und Mord«.
2016 hatten Andreas Heusler und Andrea Sinn in der Reihe »Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern« den Band Die Erfahrung des Exils. Vertreibung, Emigration und Neuanfang. Ein Münchner Lesebuch herausgebracht. Nun legen die beiden Historiker in englischer Sprache mit einer kommentierten Sammlung von Selbstzeugnissen, darunter viele bislang unveröffentlichte, nach.
QUELLEN Diese autobiografischen Quellen dokumentieren Flucht und Exil deutscher Juden aus dem sogenannten Dritten Reich. Dianne Schwager (USA) und Anthony Blechner (vormals England, heute Israel), zwei Nachfahren verfolgter jüdischer Familien in München, öffneten ihre Archive. Blechner ermöglichte damit bereits 2001 die Publikation Ich lebe! Das ist ein Wunder: Schicksal einer Münchner Familie während des Holocaust.
Dianne Schwager initiierte am Gärtnerplatz, wo ihre Großeltern Leopold und Sabine Schwager seit ihrer Hochzeit 1911 bis zu ihrer Deportation 29 Jahre lang gelebt hatten, Erinnerungszeichen. Familienfotos und Briefe, die ihr Vater noch selbst ins Englische übersetzt hatte, machte sie Andreas Heusler und Andrea Sinn – und damit der Forschung – zugänglich.
Die beiden Nachkommen waren eigens zur Buchpräsentation angereist und ließen sich von Andrea Sinn, seit 2016 Professorin an der Elon University, North Carolina/USA, interviewen. Die Ursprünge hätten nicht unterschiedlicher sein können. Anthony Blechners Großvater Markus (Mordechai) war aus Galizien eingewandert. Er wechselte von einem Schtibl in die Synagoge der Ostjuden in der Reichenbachstraße, kaum dass diese fertiggestellt war. Die Schwagers dagegen, obgleich um die Ecke wohnend, gingen stets in die Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße.
Kostproben aus den erschütternden Korrespondenzen trug Armand Presser vor. Die ins Exil Geflüchteten verzweifelten oft daran, nichts für ihre zurückgelassenen Eltern und andere Anverwandte tun zu können. Meist waren alle Bemühungen, noch ein Schlupfloch für die Ausreise zu finden, vergeblich.
Andrea A. Sinn und Andreas Heusler (Hrsg.): »German Jews and Migration to the United States, 1933–1945«. Lexington Books 2022, 304 S., 110 US-$