Aus Sicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist die Sache klar: Von 2032 der im August im Lagebericht Antisemitismus veröffentlichten antisemitisch motivierten Straftaten wurden in Statistiken zur Politisch motivierten Kriminalität (PMK) 1898 dem Bereich »rechts« zugeordnet. Islamismus und Linksextremismus spielen nach Ansicht von Polizei und Verfassungsschutz nur eine nachgeordnete Rolle.
Diese Ansicht deckt sich nicht mit den Erfahrungen vieler Juden. Das wurde am Montag bei der Vorstellung der Studie »Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen. Wahrnehmungen und Erfahrungen jüdischer Menschen« in Düsseldorf deutlich.
»Wir hätten auch ein Antisemitismusproblem ohne Flüchtlinge und Muslime«, sagte Serap Güler (CDU), Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration von NRW. »Wir wären ohne diese Gruppen nicht problemfrei, das zeigen Halle und viele andere Beispiele.«
Viele Vorfälle wurden polizeilich nicht als antisemitisch erkannt oder bewertet.
2015 seien viele Menschen aus dem arabischen Raum nach Deutschland gekommen: »Ihnen wurde oft mit der Muttermilch ein gewisses Maß an Antisemitismus vermittelt. Es ist ein Irrglaube, dass, wenn diese Menschen die Grenze überschreiten, aus Antisemiten lupenreine Demokraten werden.« Bei der Integration dieser Menschen gehe es nicht nur um Sprache, Bildung und Arbeit. »Es geht auch um eine gemeinsame Wertebasis.«
SABRA Die Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA), der Verein Bagrut, die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), haben die 96-seitige Broschüre herausgegeben. Für die Studie wurden zwischen Juli und Dezember 2019 Interviews mit 59 jüdischen Akteuren aus ganz NRW geführt. Die meisten waren in ihrem Alltag mit Antisemitismus konfrontiert.
Alle Befragten der Studie erwähnten die Zunahme des israelbezogenen Antisemitismus.
Ein weiteres Ergebnis: Von den 209 antisemitischen Vorfällen zwischen 2014 und 2018, die durch zivilgesellschaftliche Initiativen bekannt gemacht und in der Studie analysiert wurden, waren lediglich 54 Fälle auch in der PMK-Statistik des Landes aufgeführt. Viele Vorfälle und Straftaten, die nach Einschätzung des Bundesverbandes RIAS antisemitisch waren, wurden entweder polizeilich nicht bekannt oder nicht als antisemitisch bewertet.
Alle Befragten der Studie erwähnten die Zunahme des israelbezogenen Antisemitismus, vor allem während der judenfeindlichen Demonstrationen und Ausschreitungen im Sommer 2014. Bezogen auf den politischen und religiösen Hintergrund antisemitischer Täter stufen die meisten Befragten islamistischen Antisemitismus als sehr wichtig ein. Wegen der aktiven Nazi-Szene vor allem im Ruhrgebiet und Ostwestfalen nannten viele auch rechtsextreme Gruppen, Parteien und Einzelpersonen als Täter.
Meldesystem Als Ergebnis der Studie forderte Abraham Lehrer, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln und Vizepräsident des Zentralrats der Juden, neue Wege bei der Erfassung von antisemitischen Taten zu gehen: »Ein niedrigschwelliges Meldesystem für antisemitische Vorfälle ist seit Langem überfällig.« Betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus den Gemeinden hätten immer wieder über fehlende Möglichkeiten geklagt, sich jemandem zu öffnen oder geeignete Unterstützung und Hilfe in ihrem Bemühen der Verarbeitung zu erhalten.
»Sowohl der Zentralrat der Juden, aber auch die Synagogen-Gemeinde Köln wurden von ihren Mitgliedern häufig auf diesen Missstand hingewiesen. SABRA und der Bundesverband RIAS sind mit Unterstützung und Beteiligung der jüdischen Organisationen in diese Lücke gesprungen und leisten hier in NRW und bundesweit eine vorbildliche Arbeit.«
»Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich: Der Anteil antisemitischer Vorfälle im sogenannten Dunkelfeld ist riesig.«
Antisemitismusbeauftragte für NRW Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Die Antisemitismusbeauftragte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sieht das ähnlich. »Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich: Der Anteil antisemitischer Vorfälle im sogenannten Dunkelfeld ist riesig.« Beschimpfungen, Schmähungen und Übergriffe würden in der Polizeistatistik nicht vollumfänglich erfasst, prägen aber den Alltag vieler Jüdinnen und Juden. »Um diese Vorfälle ans Licht zu bringen und die Präventionsarbeit gegen Antisemitismus mit zielgerichteten Angeboten zu stärken, braucht es einen umfassenden Überblick über die antisemitischen Gefährdungen und deren Ursachen.«
Betroffene Zentral sei dafür die Einrichtung einer leicht erreichbaren Anlaufstelle für betroffene Menschen. »Eine Meldestelle zu antisemitischen Vorfällen in Nordrhein-Westfalen ist deshalb notwendig, die wir gemeinsam mit Partnern aus der Zivilgesellschaft und der Landesregierung umsetzen.« Solche Meldestellen hat in den vergangenen Jahren die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) aufgebaut.
Neben dem RIAS-Bundesverband gibt es mittlerweile Landesverbände in Berlin, Bayern, Brandenburg und Schleswig-Holstein. RIAS betreibt auch die mehrsprachige Internetseite report-antisemitism.de, über die antisemitische Vorfälle gemeldet werden können.
Benjamin Steinitz, der Geschäftsführer des Bundesverbandes RIAS, kann sich offenbar auch einen Landesverband NRW vorstellen: »Das Land Nordrhein-Westfalen benötigt dringend eine zivilgesellschaftliche Meldestelle, die Betroffene unterstützt und antisemitische Vorfälle aus Betroffenenperspektive kontinuierlich nach den vom Bundesverband RIAS entwickelten Standards dokumentiert.«