Thüringen

Von Arnstadt bis Walldorf

Altenburg, Arnstadt, Aschenhausen, Barchfeld, Berkach, Bibra, Bleicherode. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. An 32 Standorten in Thüringen wollten Jan Kobel und Judith Rüber mehr wissen. Der Fotograf und die Kuratorin zogen durch Thüringen, recherchierten Adressen, Standorte und alte Fotos ehemaliger Synagogen, um herauszufinden, wie diese Grundstücke heute aussehen, welche Spuren früheren jüdischen Lebens sich finden lassen. Ihr Resümee: »In drei Fällen steht die Synagoge wundersamerweise noch als Synagoge. In einem wieder. In 28 anderen Fällen staunt man, was alles möglich ist.« Und das meint Jan Kobel durchaus kritisch.

Beide zogen vor fast 16 Jahren von München nach Arnstadt. Sie sanierten eine ehemalige Handschuhfabrik, die heute ihr Domizil ist und ein kleines Hotel beherbergt. Weil beide ein Herz für alte Industriekultur haben, fiel ihnen irgendwann der alte Milchhof der Stadt auf. Dass der damalige Architekt, Martin Schwarz, den kubischen Bau 1927/28 schuf und 1913 ausgerechnet die Arnstädter Synagoge sein erstes Bauprojekt war, ahnten sie damals noch nicht. Heute sanieren beide den ehemaligen Milchhof – und kümmern sich auch um das Erbe von Martin Schwarz.

IMPFGEGNER Dort war Ende 2021 auch ihre Ausstellung erstmals zu sehen. Dass ausgerechnet am 9. November fast 50 Impfgegner und aufgebrachte Bürger lauthals vor der Milchhof-Tür demonstrierten, hat beide mitgenommen. »Ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben jemals so angefasst oder erschrocken war wie bei diesem Vorfall«, sagt Judith Rüber im Nachhinein.

Denn auch Bodo Ramelow, der Thüringer Ministerpräsident, hatte seine Teilnahme an der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht am späten Nachmittag zugesagt. Für Kritiker der Politik war das der Anlass, um ihren Unmut kundzutun und sich mit den Opfern der Schoa zu vergleichen. Ausgerechnet an diesem Ort und in diesem Kontext. Die Fassungslosigkeit ist Judith Röber und Jan Kobel auch Wochen später noch anzumerken. Die Polizei forderte Verstärkung an, dann erst konnte das Gedenken würdevoll innerhalb der Ausstellungsfläche beginnen.

Wo früher Synagogen waren, stehen heute Einkaufszentren, Garagen, Neubaugebiete.

2022 soll die Ausstellung in jedem der gezeigten 32 Orte Station machen. Genau dafür ist sie inklusive Stelen und Kisten geplant. Erste Interessenten haben sich bereits gemeldet. Im Rahmen des Themenjahrs »900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen« wird sie derzeit online auf dem »Menora-Portal« aufbereitet und ist demnächst auch im Internet zu sehen. Zudem ist ein Buchprojekt geplant. Auch wenn die Spurensuche längst noch nicht abgeschlossen ist.

BRACHE Den Anstoß gab übrigens der ehemalige Synagogenstandort in Arnstadt selbst. Denn dessen Zustand habe das Paar nachdenklich gemacht. »Eine Brache« sei es, sagt Judith Rüber. Ernüchternd sei, »dass direkt an diesem Grundstück überhaupt nichts an die Synagoge erinnert«, auch wenn in der Nähe seit 1988 ein Gedenkstein steht. Also zogen beide los, um der Frage nachzugehen, wie es anderswo aussieht. Und genau hier beginnt die Ambivalenz.

An vielen Stellen würde man heute nichts mehr vom früheren jüdischen Leben erkennen, stellten der Fotograf und die Kuratorin rasch fest. Viele Menschen wüssten auch nicht mehr, wie sie aussahen, die Synagogen ihrer Stadt, oder wer die jeweiligen Architekten waren, sagt Judith Rüber. Die meisten der oftmals großartigen Bauwerke seien aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt. Auch in Arnstadt.

Ihr Lieblingsbeispiel ist Dresden. Kaum jemand wisse, dass ausgerechnet Gottfried Semper der Erbauer der großen alten Synagoge im orientalischen Stil nahe des Terrassenufers war. »Da haben wir diesen fehlenden Kontext«, sagt die Kuratorin. Deshalb seien sie hellhörig geworden. »Was ist da eigentlich verschwunden?«, haben sie sich gefragt. Jeder Mensch wisse, wo sich die Kirche in der Stadt befindet, das Rathaus und die Schule, auch dann, wenn er weder in die Kirche geht, noch das Rathaus je betritt. Das galt über Jahrzehnte auch für die Synagogen. »Es gibt ganz viele Postkarten aus dem frühen 20. Jahrhundert mit verschiedenen Sehenswürdigkeiten einer Stadt, oft sind die Synagogen abgebildet«, berichtet Rüber. Bis 1933.

SELBSTBEWUSSTSEIN Auch in Gotha ist das so: Auf alten vergilbten Postkarten ist eine stattliche, imposante Synagoge völlig selbstverständlich neben dem Schloss und anderen Wahrzeichen zu sehen. Selbstbewusst zeigt man, was den Stolz einer Stadt ausmacht. »Eine prächtige Gründerzeit-Synagoge, riesengroß, erbaut von Richard Klepzig (1860–1923), mit einer damals wohl auch schönen Straße davor.«

Die Bedeutung der Orte wird von Eigentümern, Verwaltungen und Akteuren oft nicht erkannt.

Und heute? Judith Rüber hält kurz inne. »Heute ist dort ein Einkaufszentrum. Man steht an dieser Stelle, wo das Gartentor zum Synagogengrundstück war, und schaut auf den Schriftzug eines großen Lebensmittelmarktes.« Zwar werde in aufwendiger Art mit einem Synagogen-Modell und einem Davidstern an die Geschichte erinnert. Doch die Überformung habe etwas so Absurdes, dass die »ausgelöschte Synagoge und der fehlende räumliche Bezug« nur noch schlimmer zu spüren seien.

Für Jan Kobel ist das Beispiel Heilbad Heiligenstadt ernüchternd. Wo einst eine Synagoge stand – mitten in der Stadt –, ist heute eine schmucke Häuserzeile. Erinnerungsarbeit? Wertschätzung der Geschichte? Fehlanzeige. Der erhaltene und gerade sanierte Bau der ehemaligen Synagoge wurde zuvor als Wohnhaus genutzt und war doch 2011 abgerissen worden, um – wie es damals hieß – etwas Neues zu schaffen. Für Jan Kobel unverständlich. Nüchtern und kühl hat er die Häuserzeile und damit die Banalität des Vergessens fotografiert.

»Von 18 Synagogenbauten, deren bauliche Hülle die Pogromnacht des 9. November 1938 überlebt hatten, stehen heute nur noch sechs. Drei davon sind zu Wohngebäuden umgenutzt. Die meisten davon sind nach der Wende 1990 zerstört worden, mehr noch als zu Zeiten der DDR.« Dort befinden sich heute Einkaufszentren, Geschäftsgebäude, Durchgänge zu Garagen, Neubaugebiete.

BAUGRUND Kein Fall sei wie der andere, so Kobel, wenn man auf das Auslöschen der jüdischen Gemeinden in Thüringen ab 1933 und das Schicksal der jeweiligen Immobilien und Grundstücke schaue. Was ihn besonders ärgert, ist, dass ehemalige zentrale Orte des jüdischen Lebens heute wie normaler Baugrund behandelt werden.

Die Bedeutung authentischer Orte und des Respekts vor ihrer Unberührbarkeit werde von den Eigentümern, Verwaltungen und Akteuren häufig nicht erkannt. »Diese authentischen Orte sind aber Voraussetzung für ein sich in das allgemeine öffentliche Bewusstsein der Deutschen eingrabendes Gedenken«, ist der Fotograf überzeugt. Als er sich gemeinsam mit Judith Rüber auf Spurensuche begab, hatten sie manchmal historische Fotos im Gepäck, Hinweise auf Straßen, Plätze, Adressen.

Gesehen hätten sie alles, meint der Fotograf, auch den wertschätzenden Umgang mit dem Gelände, zum Beispiel in Eisenach. Dort ist das gesamte ehemalige Synagogengrundstück ein Gedenkort. Ein großer Stein mit Tafel erinnert an die ehemalige Synagoge, deren Grundriss auch angedeutet wird. Manche Synagogen in Thüringen sind auch deshalb erhalten geblieben, weil ihre Zerstörer sonst das halbe Dorf mit abgebrannt hätten – wie in Aschenhausen, wo das Haus heute allen offensteht, ein Erinnerungsort ist, aber auch ein Ort für Kultur und Gemeinschaft.

»Diese Banalität des Alltäglichen, die all diesen Grundstücken inzwischen anhaftet«, meint Judith Rüber, sei erschreckend. »Wir reden natürlich auch von Gedenkstätten – das sind die positiven Beispiele – oder von Situationen wie in Nordhausen, wo das ganze Gebiet in Blockbebauung aufgebaut wurde, mit Wäscheplätzen und so weiter. Da gibt es einen Gedenkstein am Rande, von 1988. Dort hat man mittlerweile 2005, zwischen Parkplatz und Wäscheplatz, zwei Betonstufen gesetzt und um eine Infotafel erweitert mit dem Hinweis: ›Eingang zur Synagoge‹. Das sind die Fälle, da gibt es ein Bemühen, mit dem Ort umzugehen. Manchmal geschieht das gut, manchmal ist es mehr ein ritualisiertes Gedenken.«

BETRÄUME Wie viele Beträume es vor und im 19. Jahrhundert in Thüringen gab, ist kaum mehr nachzuvollziehen. Manchmal existierten kleine Gebetsräume in privaten Häusern, manchmal waren es schmucklose Fachwerkhäuser oder zweckentfremdete Scheunen. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstanden, meist mitten im Zentrum der Landgemeinden und Städte, selbstbewusste und schöne Synagogen.

Was Judith Rüber und Jan Kobel in ihrer Fotoausstellung zeigen wollen? Dass oftmals über Jahrhunderte Kirchen, Schlösser, Rathäuser wie selbstverständlich erhalten geblieben und als Wahrzeichen der Stadt zu Symbolen geworden sind. Nur nicht die Synagogen. »Und das ist es. Das zeigen wir in der Ausstellung. Sie sind mit der Pogromnacht 1938 mit solch einer Rigorosität verschwunden, für immer, das ist nicht überraschend, aber erschreckend«, sagen beide.

Auf alten Postkarten ist die Synagoge neben dem Schloss und anderen Wahrzeichen zu sehen.

»Als wir anfingen, war uns gar nicht klar, wie stark das fortwirkt, das Auslöschen des Ortes und damit der Erinnerung, und so ein angemessenes Gedenken verhindert.« Denn gerade die selbstbewusste Entscheidung der zunehmend anerkannten Gemeinden, im 19. Jahrhundert für den Synagogenbau Grundstücke in guter, zentraler Lage zu erwerben, habe nach 1945 und erst recht nach 1990 zahlreiche Begehrlichkeiten neuer Nutzungen geschaffen.

Mittlerweile haben viele Besucher die Ausstellung gesehen, Gäste aus Thüringen und von außerhalb. Judith Rüber freut sich über die Resonanz, weil die Besucher erzählt hätten, inwieweit das mit ihren persönlichen Erfahrungen der eigenen Stadt- oder Familiengeschichte zu tun habe. »Es gab auch große Emotion und das Bedürfnis, mehr wissen zu wollen.« Die beiden Ausstellungsmacher hoffen nun, im Festjahr »900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen« mehr Bewusstsein für das Verlorene, aber auch für die Verantwortung der Gesellschaft zu schaffen. Denn das sei Voraussetzung, um jüdisches Leben heute mehr wertzuschätzen.

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