Vor 80 Jahren sind meine Großeltern aus Polen geflohen. Nun erlebt unsere Generation, wie Menschen wegen eines brutalen Krieges ihre Heimat verlassen. Was den Ukrainern angetan wird, ist einfach nur furchtbar. Dass ich mich engagiere, ist selbstverständlich.
Mir war schon einige Tage vor Kriegsbeginn klar, dass Wladimir Putin das Land überfallen wird. Das hat mir den Schlaf geraubt, und ich war angespannt. Die eskalierende Nachrichtenlage hat alles noch verschlimmert. Ich musste einfach etwas Positives machen, um mich davon abzulenken. Vom Berliner Hauptbahnhof wohne ich nur wenige Minuten entfernt. Da ich selbstständig bin, kann ich meine Zeit so einteilen, dass ich dort helfen kann.
rückzugsort Sehr schnell hat sich gezeigt, dass dort viele Mütter mit kleinen Kindern ankommen. Oft waren sie tagelang unterwegs, sie sind übermüdet und erschöpft. Zwischen ein paar Glaswänden im Untergeschoss habe ich angefangen, einen Rückzugsort einzurichten. Tagsüber können dort Kinder spielen oder malen. Die Mütter haben Zeit, sich etwas auszuruhen. Nachts bauen wir ein Notlager auf, damit gestrandete Familien in Ruhe und Sicherheit schlafen können.
Manchmal ist die Lage sehr unübersichtlich. Wir haben erlebt, dass sich seltsame Gestalten an die Frauen und ihre Kinder anschleichen. Deshalb arbeiten wir mit einem privaten Sicherheitsdienst zusammen, der auch Detektive inkognito abstellt.
Auch mit den Behörden und der Bahn ist die Zusammenarbeit eine Herausforderung. Das kann frustrierend sein, denn die meiste Arbeit im Hauptbahnhof wird von Freiwilligen gestemmt, die ihr gesamtes Herzblut geben.
POTENZIAL Dass ich in Berlin lebe, ist Zufall. Ich habe in Israel Produktdesign studiert und danach als Grafikdesignerin gearbeitet. Allerdings hatte ich immer das Gefühl, dass ich mein Potenzial nicht richtig ausschöpfe.
2014 hatte mir ein Freund von einer interessanten Stelle in einem Start-up erzählt. Die war sehr interessant, aber leider unbezahlt. Zum Glück kannte mein Bekannter ein paar Kniffe, und so konnte ich mir den Aufenthalt über ein Erasmus-Stipendium finanzieren. Über ein Visa-Programm für Kreative der Berliner Regierung konnte ich dann dauerhaft hierbleiben.
Als Teenager während der Intifada in Israel sehnte ich mich nach »normalen« Problemen.
Geboren wurde ich in Argentinien. Im Alter von zwei Jahren bin ich mit meinen Eltern nach Israel immigriert. Leider habe ich mich dort oft so gefühlt, als gehörte ich nicht dazu. Zu Hause haben wir nur Spanisch gesprochen, der Kulturkreis war ein anderer.
Als ich aufwuchs, habe ich mich immer nach »normalen« Problemen gesehnt. Die ständige Sorge vor einem Krieg hat mich deprimiert. Ständig bin ich an die Gefahr erinnert worden, weil wir oft in Bunkern ausharren mussten. Die politischen Spannungen zerfressen den Alltag.
»DOLPHINARIUM« Hier in Deutschland beschäftigen sich die Leute damit, wo sie als Nächstes essen gehen, wie man seine Karriere voranbringt oder wie man die Beziehung zu seinem Partner verbessern kann. Ich bin während der Intifada aufgewachsen. Klassenkameradinnen von mir waren im Klub »Dolphinarium«, als sich dort ein Terrorist in die Luft gesprengt hat. Eine von ihnen hat ihr Augenlicht verloren.
Es war eine schreckliche Zeit. Meine Eltern haben mich nie nach Tel Aviv fahren lassen. Sie hatten ständig Angst, etwas könnte passieren. Also blieb ich die meiste Zeit in Rechovot.
Als Teenager wollte ich schließlich auswandern. Am liebsten nach Irland oder nach Großbritannien. Mit einer Schulfreundin habe ich sogar einmal den Unterricht geschwänzt, um zur britischen Botschaft zu gehen. Wir wollten alles tun, um nicht zum Militär zu müssen. Lieber weg, war unser Motto. Das war natürlich naiv, und am Ende habe ich den Armeedienst geleistet.
Während meines letzten Dienstmonats hat sich Israel aus Gaza zurückgezogen. Einige Freunde von mir mussten jüdische Bewohner zwingen, ihre Häuser dort zu verlassen. Das war wirklich nervenaufreibend.
ENGAGEMENT Während des Studiums habe ich begonnen, mich politisch zu engagieren. Ich bin gegen steigende Lebensmittelpreise auf die Straße gegangen oder weil ich mit der Politik von Benjamin Netanjahu nicht einverstanden war. Allerdings schien mir schnell klar zu sein, dass sich in absehbarer Zeit nichts ändern würde.
Ich kann mich gut erinnern, wie Angela Merkel während eines Staatsbesuchs über die Start-up-Szene in Berlin gesprochen hatte. Das hat mich interessiert. Mit meiner Arbeit wollte ich immer etwas verbessern. Ich glaube, dass Start-ups die Innovationstreiber unserer Zeit sind.
Sollte mir einmal die richtige Idee kommen und die passende Geschäftspartnerin dazu, könnte ich mir vorstellen, selbst ein Unternehmen zu gründen. Solange das nicht passiert, sind meine Fähigkeiten am besten bei jungen Start-ups aufgehoben.
Wenn ich andere Menschen aus dem Nahen Osten treffe, die eine ähnliche Einstellung zum Leben haben wie ich, dann fühle ich mich zu Hause.
Hier gibt es jede Menge neue Ideen, aber aus vielen wird leider nichts. Oft schaffen die Gründer es nicht, Investoren zu überzeugen. Etliche wissen gar nicht, wie sie das anstellen sollen oder wie sie ihre Produkte am besten für die Kunden präsentieren. Bei solchen Problemen kann ich helfen. Eine Marke zu entwickeln oder die Bedienung einer App, Verpackungen, Drucke – ich mache eigentlich alles.
Die größte Freude empfinde ich, wenn aus Ideen tatsächlich Produkte entstehen, mit denen die Welt ein kleines bisschen verbessert wird, wenn es Erleichterung für die Menschen bringt oder der Umwelt zugutekommt. Es gibt hier diese große Community aus Einwanderern, und alle bringen etwas mit. Das mag ich besonders an Berlin.
IDENTITÄT Mich beschäftigt oft die Frage, welche Identität ich habe. Mein Vater wurde in Argentinien geboren, aber seine Eltern stammen aus Polen. Meine Mutter kam in Mexiko zur Welt, und ihre Eltern waren Einwanderer aus Syrien. Bin ich Israelin, bin ich Latina? Was ist polnisch an mir? Ich habe mal einen DNA-Test gemacht und festgestellt, dass ich zu 20 Prozent griechisch bin. Aber wo kommt das her? Keine Ahnung.
Ich trage auf meinem rechten Handgelenk ein Tattoo. »Un poco«, steht dort. Und auf dem linken Handgelenk ist »de todo« eingestochen. Das beschreibt mich ganz gut: Ich bin ein bisschen von allem.
Oft fühle ich mich rastlos. Mir wurde oft gesagt, ich sei wie die alten Juden, die kein Land hatten und stattdessen umherzogen.
FEIERTAGE Ich bin nicht besonders religiös, aber viele jüdische Feiertage genieße ich sehr. Ich liebe es, mich an Purim zu verkleiden. Mit Freunden gehe ich dann oft in den Klub »Ritter Butzke«. Pessach und Rosch Haschana feiere ich gern. Und zu Weihnachten fahre ich mit meinem Freund nach Ostfriesland, und wir haben ein gemütliches Fest mit deutschen Traditionen.
Wenn ich andere Menschen aus dem Nahen Osten treffe, die eine ähnliche Einstellung zum Leben haben wie ich, dann fühle ich mich zu Hause. Bevor ich nach Berlin gekommen bin, hatte ich nie die Gelegenheit, ausführlich mit Palästinensern, Syrern, Iranern oder Libanesen zu sprechen. Hier treffe ich nun viele von ihnen.
Mir fällt dann oft auf, wie sehr wir uns ähneln: die Kultur, die Körpersprache, die Gastfreundschaft, das Essen. Ist es da nicht völlig absurd, dass es keinen Frieden im Nahen Osten gibt?
UKRAINE-KRIEG Der Krieg in der Ukraine führt mir vor Augen, in welch einer fragilen Lage sich auch Israel befindet. Wenn Autokraten oder Diktatoren Israel angriffen, würde ich sofort zurückgehen, um mein Land verteidigen zu können. Ich bin zwar mit vielem nicht einverstanden, was in der israelischen Politik geschieht. Dennoch ist es mir wichtig, das Land zu beschützen. Es ist der einzige Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden auf der Welt.
Während meiner Arbeit am Hauptbahnhof habe ich mich mit dem Manager eines Schnellrestaurants angefreundet. Er ist Syrer und kam vor einigen Jahren als Flüchtling hier an. Wir brauchen oft heißes Wasser. Nun fülle ich abends mit ihm Wärmflaschen ab, und wir sprechen dabei über unsere Erfahrungen als Ausländer in Berlin. Wir verstehen uns wirklich gut. Warum geht das nicht zwischen den Ländern, aus denen wir kommen?
Aufgezeichnet von Oliver Noffke