Porträt der Woche

Vom Ural nach Ulm

Natan Hramatchykov zog aus der Ukraine über Sibirien an die Donau - und fand spät im Leben zum Judentum

von Brigitte Jähnigen  08.07.2023 22:53 Uhr

»Das Leben in Deutschland kann nur leichter als das in der Ukraine sein«: Natan Hramatchykov (53) aus Ulm Foto: Brigitte Jähnigen

Natan Hramatchykov zog aus der Ukraine über Sibirien an die Donau - und fand spät im Leben zum Judentum

von Brigitte Jähnigen  08.07.2023 22:53 Uhr

Das vergangene Jahr war sehr besonders. Meine Frau Elena hat Giur gemacht, wir beide sind unter die Chuppa getreten, und mein Vater hat sich für eine Beschneidung entschieden. Es ist, als ob nun ein anderes Leben für uns begonnen hätte. Ein Leben in Deutschland, in Ulm, im Judentum.

Gekommen sind wir im Jahr 2011 aus Kremenchuk. Kremenchuk ist eine Handels- und Industriestadt in der Mitte der Ukraine und zählt etwa 220.000 Einwohner. Zum Vergleich: Das sind etwa doppelt so viele wie in Ulm. Vorher haben wir in Sibirien gelebt, wo meine Frau geboren wurde. Nun war ich rechtzeitig dort, um sie bei einer Party kennenzulernen. Ein Bekannter hat uns vermittelt.

Tanzen kann ich zwar nicht, aber ich hatte in meiner Jugend ein paar poetische Sprüche gelernt, mit denen ich junge Frauen beeindrucken wollte. Offenbar hat das bei Elena geklappt. Jedenfalls haben wir uns verliebt und später in der Ukraine geheiratet. Staatlich, wie die meisten. Alles Religiöse war nicht so bekannt, zumal speziell unsere jüdischen Omas Angst hatten, dass ihre Kinder und Enkel ein schlechtes Leben haben könnten, wenn sie sich zum Judentum öffentlich bekannt hätten.

SCHULE Ich selbst bin in Kremenchuk geboren. Dort habe ich die Schule besucht und studiert. Als ich ungefähr 13 Jahre alt war, sah ich im Pass meiner Mutter den Vermerk »Jewrej – Jude«. Bei mir stand Russe. Aber es interessierte mich nicht. Fast jeder in der ehemaligen Sowjetunion war gottlos. Gewundert habe ich mich nur, warum mir einige Kameraden in der Schule »Jid« nachriefen. Es ist ein Schimpfwort für »Jude«. Ich fragte mich damals, warum sie das taten. Heute frage ich mich, woher wussten sie, dass ich jüdischer Abstammung bin, denn ich wusste es selbst nicht.

Nach dem Abschluss des Studiums für Landwirtschaftlichen Maschinenbau – das Studium wurde durch die Pflichtarmeezeit unterbrochen – war die Lebenssituation sehr viel schwieriger geworden. Die Sowjetunion war zerbrochen. Jeder musste sich selbst um Arbeit kümmern. Es war schwierig. Zuerst habe ich gedacht, ich gehe weg. Vielleicht nach Norwegen in die Ölbranche? Das wäre aber sehr teuer. Und dieses Geld hatte ich nicht. Dann dachte ich, ich gehe lieber nach Israel. Denn inzwischen wusste ich vom Jüdischsein meiner Familie und den Möglichkeiten, legal auszuwandern. Alle rieten mir ab, obwohl ja eigentlich niemand Bescheid wusste. Die sagten nur, in Israel seien die Verhältnisse genauso wie in der Sowjetunion. Natürlich weiß ich es jetzt besser.

Wir fanden spät zur Religion. Mein Vater ließ sich erst mit 83 Jahren beschneiden.

Irgendwie war es kompliziert. Um meine Existenz zu sichern, hatte ich dann einen Kiosk an einer Bushaltestelle. Vielleicht, so dachte ich bald, könnte ich mehr Chancen in Sibirien haben? Sibirien gehörte zu Russland, Kremenchuk war ukrainisch. Mit dem Referendum vom 1. Dezember 1991 hatte sich die Ukraine von der ehemaligen Sowjetunion losgesagt. Also fuhr ich gen Osten, 3000 Kilometer weit bis hinter den Ural. Und dort traf ich Elena in Kurgan. Blond, hübsch, lebensfroh. Sie hat Ökonomie studiert. 1999 wurde unser Sohn Ilja geboren. Und weil meine Eltern noch in Kremenchuk wohnten, fuhren wir mit dem Auto immer einmal wieder diese 3000 Kilometer.

paradies Elena liebte das Leben in der Ukraine. Sie sagt, die Menschen wären freundlicher, das Ukrainisch, das sie sprachen, melodischer als das Russische, es war wärmer, und es gab Früchte und Gemüse, die in Sibirien nicht zu beschaffen waren. Meine Frau schwärmte richtig und sagte, es sei das Paradies, in Kremenchuk zu leben. Der europäische Einfluss ist dort stark zu spüren. Also machten wir, was sie wollte, und zogen 2002 in die Ukraine.

Doch irgendwann stand dann doch die Ausreise nach Deutschland auf dem Plan. Wir überlegten, wohin wir gehen könnten. Klar war: Es sollte eher Süd- als Norddeutschland sein. Wir lieben die Berge. Konkrete Vorstellungen hatten wir nicht. Dass Bayern und Baden-Württemberg wirtschaftlich die stärksten Bundesländer sind, wussten wir nicht. Was ich aber wusste: Das Leben in Deutschland kann nur leichter als das in der Ukraine sein. Und Angst vor der Arbeit hatte ich nicht.

Also haben Bekannte von Bekannten bei der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) nachgefragt, ob wir willkommen wären. So kamen wir nach Ulm. Erst wohnten wir bei Bekannten, dann drei Monate in einer Flüchtlingsunterkunft, und bald hatten wir im Stadtteil Wiblingen eine eigene Wohnung. Ilja war zwölf, besuchte für kurze Zeit eine Integrationsschule und kam dann sehr schnell aufs Gymnasium. Elena und ich lernten Deutsch.

Und nur ein Jahr später wurde unsere neue Synagoge mit Gemeindezentrum am Weinhof eingeweiht. Was für ein Tag! Sogar der damalige Bundespräsident Joachim Gauck war nach Ulm gekommen, um das »Wunder« zu würdigen. Die ganze Stadt war auf den Beinen, und der Oberbürgermeister hatte 70 einst in Ulm geborene Jüdinnen und Juden eingeladen. Da floss manche Träne. Fünf Jahre später wurde das Bestehen der Synagoge mit dem Einbringen einer neuen Torarolle gefeiert. Die Gemeinde hatte das Geld gespendet, doch auch viele nichtjüdische Leute hatten großzügig gesponsert.

TORA Mein Jüdischsein hatte ich inzwischen voll ausgelebt, mich beschneiden lassen und mir gesagt, ja, ich will die 613 Gebote der Tora einhalten. Doch so ganz ohne Elena ging das nicht. Sie hatte mich beobachtet, wie wichtig mir ein eventueller Giur von ihr sein könnte. Eine koschere Küche hatten wir schon. Lebensmittel können wir in Straßburg, im Elsass oder in unserem eigenen Gemeindeladen besorgen. Unser Rabbiner Shneur Trebnik und seine Frau Chani vermittelten für Russischsprachige und russisch Sprechende die Teilnahme an Seminaren in Antwerpen, Zürich und Israel.

Elena kam auch in die Synagoge. Aber ihre »Erlösung«, wie sie selbst sagt, war der Moment, als sie 2018 bei unserem ersten Besuch in Israel in der Höhle der Patriarchen in Hebron stand. An diesem heiligen Ort, an dem sich nach dem Tanach das Familiengrab der Erzeltern der Israeliten befindet, wusste sie, sie will aus der Zuschauerrolle raus und eine echte Jüdin werden. Sie hat bei Rabbiner Trebnik intensiv gelernt, sich den Fragen von Rabbinern aus Antwerpen, Berlin und Israel gestellt und im vergangenen Jahr den Giur geschafft.

Das war dann auch der Tag, an dem wir nach der staatlichen Trauung in der Ukraine unter der Chuppa standen. Ich erinnere mich sehr gut, welche starken Gefühle wir hatten. Und im selben Jahr ließ sich mein damals 83-jähriger Vater beschneiden. Schon Jahre vorher hatte er sich den Bart wachsen lassen, um seine tiefe Verbundenheit zum Judentum auch auf diese Weise zu leben.

Ich bin emotional nicht so an Orte gebunden.

Wir sind unserer Religionsgemeinschaft, der IRGW, sehr dankbar, dass sie uns 2018 diese für uns so wichtige Israel-Reise ermöglichte. Ich bin emotional nicht so an Orte gebunden. Klar, Ulm und die Umgebung gefallen mir sehr. Wir wandern, fahren Fahrrad, haben hier Arbeit gefunden, hier wurde unser Sohn erwachsen. Und wir halten engen Kontakt zur Synagoge und dem Gemeindeleben. Und in Deutschland bin ich zur Ruhe gekommen und konnte mein Leben überdenken. Elena und ich haben die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt, unser Sohn ist schon Deutscher.

FOTOS Für meine Frau hat sich mit dem Giur fast alles verändert. Als sie sich bei ihrer Arbeitsstelle in der Agentur für Arbeit vorstellte, hielt sie ihre Arme hinter dem Rücken, als ihr Chef sie begrüßte. Sie hat dann so nach und nach erzählt, dass sie strenggläubige Jüdin ist. Keiner benachteiligt sie. Und natürlich trägt sie ihr Haupt bedeckt. In Israel war es einfach, da wickelte sie ein Kopftuch darum. In Deutschland trägt sie eine Perücke. Wegen der Einhaltung der Schabbesregeln sind wir näher zur Synagoge gezogen. Trotzdem brauchen wir für eine Strecke 30 Minuten zu Fuß.

Ich bin jetzt 53 Jahre alt und habe eine gute Arbeit im Reifenhandel. Meine Frau hat einen Job bei der Agentur für Arbeit, nachdem sie ehrenamtlich mit den ukrainischen Flüchtlingen gearbeitet hat. In der Synagoge erzählen Fotos vom Leben unserer Gemeinde. Da gibt es sogar Bilder meines Vaters. Im März dieses Jahres waren wir wieder in Israel, privat. Jeder Aufenthalt hinterlässt starke Eindrücke. Seit dem babylonischen Exil existiert unter uns Juden der Gedanke einer Rückkehr ins Gelobte Land.

Meine Mutter ist schon vor Jahren gestorben, mein Vater vor wenigen Monaten. Von meiner Verwandtschaft lebt nur noch eine alte Tante in der Ukraine. Sie sagt, sie möchte nicht nach Deutschland kommen. Sie sei so alt, wenn sie sterbe, sterbe sie. Wenn nicht, dann sei Gott Dank. Früher dachte ich, ich entscheide über mein Leben. Aber inzwischen weiß ich, dass Gott über mein Leben entscheidet. Er wird es auch weiter entscheiden.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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