Von Pessach geht seit Jahrtausenden für die jüdische Gemeinschaft eine besondere Kraft aus. Die Kraft des Bundes, des Wissens, dass wir allen Widerständen, Bedrohungen und Feinden zum Trotz unsere Ziele erreichen können – mit G’ttes Hilfe, als Einheit, als Gemeinschaft. Diese verbindende Erkenntnis machen wir uns zu Pessach aufs Neue bewusst.
Wir kommen in den Gemeinden und Familien zusammen, und wir erinnern uns zeitgleich mit unseren Schwestern und Brüdern in aller Welt anhand der Bräuche der Sederabende an die Befreiung unseres Volkes aus der Unterdrückung sowie an den langen, beschwerlichen Weg durch die Wüste in die Freiheit – in das Gelobte, das eigene Land.
In der Erinnerung der historischen Begebenheiten spüren wir die harten Anstrengungen unserer Vorfahren und das ersehnte Glück der Befreiung. Vor allem erleben wir die Stärkung, die uns das gemeinsame Beten und Feiern verleiht – dieser Bund hält unsere Gemeinschaft zusammen. Angesichts der aktuellen gewaltigen Herausforderungen, der national wie international angespannten Sicherheitslage und der bevorstehenden wegweisenden Wahlen in Europa und Deutschland begehen wir Pessach 5777 in einer historischen Phase.
neuer hass Just in dem Moment, da die Ära der Zeitzeugen sich ihrem Ende zuneigt, da der Nationalsozialismus und die Schoa von Zeitgeschichte zu Geschichte werden, ist unsere Gemeinschaft in ungeahntem Ausmaß bedroht – auch und gerade mitten in Europa sowie leider ungebrochen in Israel, wo eine Entspannung in Anbetracht des unendlichen Hasses der Feinde des jüdischen Staates nicht in Sicht ist.
70 Jahre nach der Schoa zeigt sich Antisemitismus ungeniert und offen. Er ist nicht mehr tabuisiert, sondern regelrecht salonfähig. Nie war Judenfeindschaft »nur« ein Phänomen an den schmutzigen Rändern der Gesellschaft. Bis heute entsteht Antisemitismus gerade auch an akademischen Schreibtischen, hat seine Quelle und Blüte in der gesellschaftlichen Mitte. In der Logik moderner Mainstream-Antisemiten haben sie freilich nichts mit pöbelnden Neonazis gemein – schon gar nichts mit den Nazis von einst. Vielmehr beanspruchen sie heute die Deutungshoheit über das »Weltfinanzjudentum«, die angeblich von Juden kontrollierten Medien oder den vermeintlichen Aggressor Israel – absolut irrational infam.
Doch die sonst geltende politische Korrektheit sucht man hier vergeblich. Wird doch der Antisemitismus in unseren Breitengraden heutzutage elegant und sozialadäquat präsentiert, unterlegt mit intellektuellem Anspruch.
Als Vorwand, um Judenhass voll auszuleben, dient dabei immer seltener der stigmatisierte Jude, sondern der jüdische Staat. Israel wird unter dem Deckmantel der Menschenrechte, des Verbraucherschutzes oder des Strebens nach der ersehnten Lösung für den Nahostkonflikt zum willkommenen Vehikel für blanken antijüdischen Hass. In Wahrheit scheren sich viele der profiliertesten Kritiker Israels nicht um Menschrechte – zumindest nicht andernorts. Die Situation etwa in Syrien, Somalia, Saudi-Arabien, Kolumbien, im Sudan oder Iran lässt sie kalt. Die obsessive Abarbeitung an Israel ist wohl befriedigender, genugtuender.
bds Ein gutes Beispiel ist die israelfeindliche Bewegung »Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen« (BDS). Sie verfolgt das Ziel, den Staat Israel in die Knie zu zwingen, zu zerstören – und zwar durch umfassenden internationalen Boykott auf allen Ebenen: akademisch, wissenschaftlich, wirtschaftlich, kulturell und natürlich politisch. Den Aktivisten ist es trotz oder wegen ihrer unverkennbar antisemitischen Argumentation gelungen, sich auch in Deutschland gerade im linken politischen Spektrum als legitimer Akteur anzudienen.
Auch in München wurden BDS-Gruppen oder ihnen nahestehenden Personen und Organisationen für ihre verlogenen und perfiden Propagandaveranstaltungen mehrfach auch städtische oder kirchliche öffentliche Räume zur Verfügung gestellt. Ich erwähne BDS, weil es gegenwärtig eine der gängigsten, weltweit verbreiteten Formen des Antisemitismus ist.
Antisemiten moderner Prägung wollen keine Antisemiten sein. Aber sie haben im Antizionismus ein vermeintlich politisch korrektes Äquivalent gefunden. Sie verurteilen die Verbrechen der Nazis und Neonazis, trauern demonstrativ um Schoa-Opfer, aber mit lebenden Juden sind sie nicht zimperlich. Über die Zeitzeugen und ihre Nachkommen in Israel echauffieren sie sich ohne zu zögern, ereifern sich reflexartig in Kritik am jüdischen Staat. Ihr argumentativer Kern besteht aus Diffamierung, Delegitimierung und Dämonisierung, eine spezielle ideologische Verzerrung der Fakten, die sich zugleich traditioneller antisemitischer Stereotype bedient.
So sind unter dem Deckmantel der »Israelkritik« die Stereotypen der Judenfeindschaft nicht nur wieder salonfähig, sie dominieren die öffentliche Diskussion sowie die veröffentlichte Meinung. Das ist ebenso unerträglich wie das rasante und radikale Erstarken der extremen Rechten. In Deutschland sind Pegida und AfD zum Sammelbecken und ideologischem Zentrum von Rassismus, Antisemitismus, völkischem Nationalismus und antiliberalem Denken geworden. Diese Einstellungen verpesten unser Land, unsere politische Kultur und unser gesellschaftliches Miteinander. Sie gefährden unsere Demokratie und die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder.
ideologie Neben diesen schleichenden Gefahren haben wir es mit dem internationalen islamistischen Terror zu tun, der ein immer höher werdendes Sicherheitsrisiko gerade auch für jüdische Menschen und Einrichtungen darstellt. Er konfrontiert uns mit Ideologien, die ebenso frei von Ratio und dem Fortschritt des aufgeklärten Humanismus sind, aber zudem mit barbarischer, unerbittlicher Brutalität. Diese Extremisten stellen ihren Wahn und ihr geschlossenes Weltbild über unseren Rechtsstaat und unsere freiheitlichen demokratischen Überzeugungen. Sie wollen unser liberales Gemeinwesen zerstören.
Als jüdische Gemeinde spüren wir die erhöhte Bedrohung – von allen Seiten. Wir erfahren zunehmend Zurückweisungen und Anfeindungen – wieder! In dieser Form hätte ich das noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten. Und es ist völlig offen, welche Entwicklungen die nächsten Monate bringen. Umso mehr müssen wir zusammenhalten und uns selbstbewusst als jüdische Gemeinschaft behaupten.
Die Kraft dazu schöpfen wir aus unserer Religion, aus unserem Vertrauen in HaSchem und aus der Stärke, die wir durch das Erleben unserer Traditionen gewinnen – gerade jetzt zu Pessach. Wir dürfen stolz auf unsere wachsende Gemeinschaft und dankbar für die vielen Persönlichkeiten sein, die sich in verschiedenen Funktionen mit großem Engagement für ihre Mitmenschen und unsere Gemeinde einsetzen. Darin möge uns G’ttes Segen stets begleiten. Ihnen und Ihren Familien wünsche ich Pessach kascher wesameach!