Frau Kelerman, Sie werden am Freitag beim Neujahrsempfang des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue mit dabei sein. Was bedeutet Ihnen dieser Tag?
Ich bin ein wenig aufgeregt, aber auch sehr gespannt. Ich wurde vom Land Baden-Württemberg vorgeschlagen, und jetzt habe ich die Ehre, am Neujahrsempfang teilzunehmen.
Aus welchem Grund sind Sie eingeladen?
Ich bin Präsidentin vom Bund jüdischer Studierender Baden (BJSB), bin Inklusionsbeauftragte der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), engagiere mich in verschiedenen Organisationen im Kampf gegen Antisemitismus und setze mich für Inklusion ein.
Beim Neujahrsempfang werden bei der Begrüßung immer kurz ein paar Worte gewechselt: Wissen Sie schon, was Sie dem Bundespräsidenten und seiner Frau sagen werden?
Es gibt viele Bereiche, die mir am Herzen liegen, daher habe ich mich noch nicht vollständig festgelegt. Fest steht, dass ich mich auf jeden Fall für die Einladung bedanken möchte.
Welches Thema läge Ihnen am Herzen?
Ich habe zwei Steckenpferde: zum einen den Kampf gegen Antisemitismus und zum anderen den Einsatz für Inklusion, insbesondere für die Barrierefreiheit. Mir ist wichtig, Menschen mit Behinderungen zu helfen, da ich aufgrund meiner eigenen Behinderung weiß, wie es ist, sich mit verschiedenen Barrieren auseinanderzusetzen. Ich bin von Geburt an sehbehindert, das heißt, links bin ich blind, rechts habe ich 20 Prozent Sehkraft mit Tunnelblick und Nachtblindheit. Im Dunkeln benutze ich meinen Langstock. Ich weiß daher aus eigener Erfahrung, wie wichtig Barrierefreiheit ist. Was den Antisemitismus angeht, wissen wir allerspätestens seit dem 7. Oktober 2023, wie wichtig die Aufklärungsarbeit im Kampf gegen Judenhass ist.
Als Inklusionsbeauftragte: Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?
Vor allem Verständnis. Vielleicht auch, dass Menschen lernen, sich in andere hineinzuversetzen. Ich könnte sehr viele Beispiele aufzählen, wo die Barrierefreiheit noch kleingeschrieben wird – denken wir nur an Bahnhöfe. Meine Hauptaufgaben als Inklusionsbeauftragte der JSUD bestehen aktuell darin, jüdische Veranstaltungen barrierefrei zu gestalten und ein Sprachrohr für jüdische Studierende mit einer Einschränkung zu sein. Mein Slogan ist: Es geht alles – nur anders.
Sie sind seit der Gründung der Jüdischen Studierendenunion bei der JSUD aktiv, sitzen im Expertenkreis gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg und engagieren sich bei »Meet a Jew«: Wie hat denn alles angefangen?
Das ist eine etwas lange, aber auch eine spannende Geschichte. Ich versuche, mich kurzzufassen. Alles hat mit einem Telefonat mit meinem Vater Anfang 2016 angefangen. Er fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, an Purim in die Gemeinde zu gehen. Da ich schon sehr viele Jahre nicht mehr in der Jüdischen Gemeinde Lörrach war, sagte ich zu. Bei der Feier warf ich einen Blick auf die Infotafel. Mein Blick fiel sofort auf das Plakat von Taglit, eine Organisation, die jungen Juden eine kostenlose Israel-Reise ermöglicht.
Wie hat Sie diese Reise verändert?
Zum ersten Mal lernte ich jüdische Jugendliche in meinem Alter kennen. Durch diese Reise ist mir bewusst geworden, dass ich mich im jüdischen Leben engagieren möchte – ich spürte, dass mir etwas fehlte. Der Rabbiner in meiner Gemeinde bot mir den Job als Jugendzentrumsleiterin an, den ich dankend annahm. Im Februar 2017 fuhr ich mit meinen Jugendzentrumskindern nach Karlsruhe zur Jewrovision. Beim Betreten der Eingangshalle konnte ich mein Staunen kaum verbergen.
Inwiefern?
Ich habe noch nie so viele Jüdinnen und Juden auf einen Fleck gesehen. Im Willkommenspaket habe ich einen Flyer für den Jugendkongress gefunden. Auch auf dieser Veranstaltung kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Auf diesem Jugendkongress wurde der erste Vorstand der JSUD gewählt. Auf dem Machane 18+ hat die JSUD-Präsidentin ihre Arbeit vorgestellt, woraufhin ich mich sofort für das Religionsreferat angemeldet habe. Ich weiß noch, dass ich mich beklagt habe, dass es keine jüdischen Studierendenangebote in meiner Region gäbe. Sie erzählte mir, dass in Freiburg eine Hillel-Gruppe existierte, zu der sie mich hinzufügen könnte. Zwei Monate später nahm ich an einem der Treffen teil und lernte jüdische Studierende aus Freiburg kennen. Diese Gruppe wurde nach etwa zwei Jahren durch »Morasha Freiburg« ersetzt, wo ich bis 2021 eine der Leitungen übernommen habe. In dieser Zeit wurde ich von der JSUD zur Inklusionsbeauftragten ernannt und engagierte mich in verschiedenen Projekten. Seit 2022 bin ich im Vorstand des BJSB und seit März 2023 Präsidentin. Heute engagiere ich mich in etwa sechs bis neun
Organisationen.
Was ist jüdischen Studierenden wichtig?
Zuallererst, dass sie keine Angst haben, auf ihren eigenen Campus, ihre Ausbildungsstätte oder ihre Arbeitsstelle zu gehen. Jeder sollte das Recht haben, ohne Angst zu lernen oder zu arbeiten. An der Universität in Freiburg zum Beispiel hatten wir sehr viele Gespräche geführt – leider ohne größeren Erfolg. Als kleines »Entgegenkommen« organisierte die Unileitung eine Veranstaltungsreihe »Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus«. Es scheint, als ob es an Universitäten etwas ruhiger geworden wäre, aber das ist nicht der Fall.
Auch in diesem Jahr findet ein Jugendkongress statt: Wie blicken Sie auf das Treffen?
Ich freue mich schon sehr darauf. Es wird mein siebter Jugendkongress sein. Ich habe bis jetzt drei Ankündigungen auf Instagram gesehen. Ich freue mich sehr, Igor Levit zu begegnen. Ich habe ihn vor Jahren das erste Mal in der Sendung »Aspekte« gesehen. Ich komme selbst väterlicherseits aus einer Musikerfamilie – mein Vater ist Klavierlehrer und Konzertpianist, und wir hatten viele Musiker in der Familie. Deswegen freue ich mich besonders darauf, Igor Levit zu hören, viele neue Perspektiven kennenzulernen und natürlich meine Freunde wiederzutreffen.
Mit der Studentin und Sachbearbeiterin sprach Katrin Richter.