Meine Eltern sagen Esti zu mir. Ich bin nach meiner Oma benannt, sie hieß Ester. Viele betonen den Namen falsch, das kann ich gar nicht leiden. Deswegen sage ich: »Nennt mich lieber Esti. Das sprecht ihr alle gut aus.«
Meine Woche hat eine klare Struktur. Montags sind sechs Stunden Schule und nachmittags Sportunterricht. Der Dienstag ist komplizierter: Zuerst Schule, dann fahre ich in die Düsseldorfer Gemeinde, um die Arbeit im Jugendzentrum zu organisieren. Im September habe ich gemeinsam mit meiner Kollegin Liana die Leitung des Zentrums übernommen. Seit Kurzem mache ich das allein, weil Liana sich auf ihr Abitur konzentrieren möchte. Alles in allem bin ich 16 Stunden in der Woche damit beschäftigt. Abends von sechs bis halb neun habe ich dann noch Religionsunterricht. Danach bin ich froh, wenn ich zu Hause ankomme. Ich wohne in Neuss, da bin ich von Düsseldorf aus noch eine knappe Stunde unterwegs.
Elternheim Mittwochs, in den Freistunden, arbeite ich ehrenamtlich im Nelly-Sachs-Haus, dem jüdischen Elternheim. Dort betreue ich eine Frau, die zwei Schlaganfälle hatte, linksseitig gelähmt ist und nicht reden kann. Ich gebe ihr zu essen, lese vor. Meine Eltern, die beide in der Gemeinde arbeiten, haben sehr gute Kontakte zum Elternheim. Vor vier Jahren hatte ich dort ein Sozialpraktikum gemacht. Mir ist der Umgang mit alten Menschen auch von meinem Opa vertraut, der am Ende sehr, sehr krank war.
Mittwochnachmittag habe ich an der Schule Althebräisch-Unterricht. Wir sind neun im Kurs, fünf davon sind jüdisch. Ich gehe aufs Düsseldorfer Humboldt-Gymnasium. Bald steht das Abitur an. Ich tue mich schwer mit den Vorbereitungen. Mir fehlt nicht nur Zeit, sondern auch die Motivation. Ich bin jemand, der sagt: Wir machen das Nötigste. Aber für meine Leistungskurse Biologie und Sozialwissenschaften lerne ich intensiv und natürlich für Religion, weil es mich interessiert. Mein drittes Abiturfach ist Deutsch, dafür tue ich auch eine Menge.
Der Mittwoch ist mit viel Fahrerei verbunden. Nach der Schule bin ich wieder im Jugendzentrum, diesmal zur Team-Besprechung. Zurzeit haben wir nur vier Gruppen. Eigentlich hätten wir gern fünf oder sechs. Aber so viele Kinder kommen nicht – vermutlich, weil es zahlreiche andere Sachen gibt, die sie machen können, zum Beispiel Medien nutzen. Dann ist das Jugendzentrum nicht mehr so interessant. Aber wir haben einen ziemlich festen Stamm von etwa 20 Kindern.
Es gibt in der Gemeinde noch eine Kulturakademie mit Angeboten für Kinder. Eigentlich sollte es zusammenlaufen, aber jetzt ist es doch zu einer Konkurrenz geworden, obwohl das nicht so sein soll. Die Kulturakademie hat ein ganz anderes Profil als wir, eher schulische Angebote. Aber das Problem mit den russischen Eltern ist, dass sie eher Schule und Förderung wollen. Bei uns im Jugendzentrum ist es so, dass die Kinder auch Spaß haben und ihre Freunde treffen sollen.
Hebräisch Im Sommer höre ich auf, weil ich dann weggehe, nach Israel. Ich mache dort ein soziales Jahr im Rahmen von Bnei Akiva, dem religiös-zionistischen Jugendverband. Ich freue mich, über eine so lange Zeit in Israel zu sein. Ich war bestimmt schon zehnmal dort, aber nie länger als vier Wochen. Ich habe da eine Tante, einen Onkel, zwei Cousinen, mehrere entfernte Verwandte. Und vor drei Jahren ist meine beste Freundin dorthin gezogen. Nach dem Jahr in Israel will ich sehr gut Hebräisch sprechen können, weil ich das auch für mein Studium brauche. Mir schweben als Fächer Judaistik und Grundschullehramt vor.
Lehrerin wollte ich schon seit Längerem werden – aber lieber für jüngere Schüler. In diesem Alter legt man den Grundstein. Es ist wichtig, Kinder durch richtige Erziehung zu formen. Das kriegen viele Lehrer meiner Meinung nach nicht hin. Mein Traumarbeitgeber ist eine jüdische Grundschule.
Durch das Jugendzentrum bekomme ich mit, wie schwierig es ist, junge Menschen für Religion zu begeistern. Viele haben auf diesem Gebiet recht wenige Kenntnisse. Aber das liegt nicht daran, dass falsch unterrichtet wird, sondern an mangelndem Interesse.
Kürzlich habe ich mich mit einer katholischen Freundin unterhalten. Die sagte, sobald sie Steuern zahlen muss, würde sie aus der Kirche austreten. Sie glaubt an nichts. Da kann ich verstehen, dass sie austritt. Seltsam, ich kenne keine Christen, die irgendwie religiös leben. Getauft sind auch nur ein paar in meiner Jahrgangsstufe. Ich habe das Gefühl, das ist nicht mehr so wichtig wie früher.
Synagogen-schick Bei uns in der Familie gehört die Religion einfach dazu. An den Hohen Feiertagen machen wir uns schick und gehen in die Synagoge. Das ist bei den Christen mit der Kirche nicht mehr so. Ich finde, dass wir Juden da sehr, sehr nah dran geblieben sind. Zwar nicht alle, aber diejenigen, die in die Synagoge kommen, wissen, was sie daran haben. Für sie ist das wichtig. Ich meine, das sollten wir nicht verlieren.
Je älter ich werde, desto deutlicher spüre ich, was mir Religion bedeutet. Vielleicht gehört es irgendwie zum Reifungsprozess. So mache ich mir jetzt schon mal Gedanken darüber, woher ich koscheres Fleisch kriege, wenn ich später einen eigenen Haushalt führe. Früher, mit 13, 14 Jahren, habe ich mich manchmal gegen das Religiöse gesträubt, aus Frust oder Trotz. Ich habe alles versucht, um am Freitagabend rausgehen zu dürfen. Mittlerweile ist klar, dass ich dann zu Hause bin und mit meinen Eltern und Geschwistern zusammen esse, wir machen Kiddusch. Dann sitzen wir im Wohnzimmer, spielen Karten oder lesen ein Buch. Später gehen wir schlafen. Und wenn der Schabbat im Winter um vier anfängt, dann liegen wir eben alle schon um sechs im Bett.
Religion ist für mich in erster Linie Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit. Wenn ich daran denke, dass ich in ein paar Jahren mal heiraten werde, wäre es mit einem jüdischen Mann wohl einfacher. Auch wenn er selbst nicht religiös lebt, würde er aber vieles eher verstehen als ein Christ oder Muslim. Das mag ein bisschen rassistisch klingen, aber es hat einfach damit zu tun, dass ich mich wohler fühle, wenn ich mich nicht immer erklären muss.
Freunde Samstags schlafe ich meist bis Mittag. Oft habe ich dann auch keine Lust mehr, irgendwohin zu gehen, weil ich einfach erschöpft bin von der Woche. Eigentlich schade, denn das ist die einzige Zeit, in der ich meine Freunde treffen kann.
Und dann kommt der Sonntag. Da treffen wir uns um zwölf mit dem Team im Jugendzentrum und bereiten Essen und das Programm vor. Um zwei Uhr kommen die Kinder. Wir haben AGs mit Basteln, Singen, Sport, und es gibt Gruppenphasen, in denen wir über verschiedene Dinge sprechen: über Feiertage, aber auch über Werte wie Liebe und Freundschaft.
Ich denke, ich bin von Natur aus ein wenig faul. Doch über längere Zeit hinweg untätig sein, das kann ich nicht. Ich brauche Beschäftigung, bin neugierig und ungeduldig, muss immer alles wissen. Ich bin nur im Hinblick auf mich selbst faul: zum Beispiel, was das Lernen angeht oder das Aufräumen meines Zimmers. Sobald es die Umgebung betrifft, ist es anders, da kann ich sehr engagiert sein. Vielleicht übernehme ich mich sogar mit den vielen Aufgaben gerade. Aber ich denke, ich werde es schon schaffen.
Aufgezeichnet von Annette Kanis