»Erzähl mir, Inge …«

Virtuell real

Inge Auerbacher ist ein Auge groß. In einem schwarzen Anzug mit orangem Pullover und Tuch sitzt die 88-Jährige auf einem grauen Sessel. Neben ihr steht ein brauner Tisch, darauf eine rote Schachtel. Vor ihr ein gezeichnetes Paket mit einer Schleife, rechts hinter ihr ein Doppelstockbett, links hinter ihr ein Tor aus Ziegelsteinen – und jetzt muss sich der Kopf ein wenig nach links bewegen, um die Chanukkia zu sehen, und nach rechts, um die Freiheitsstatue zu erkennen.

Eine Bewegung nach oben zeigt den gemalten Raum, eine nach unten den gezeichneten Fußboden. Inge sitzt ganz still da. Ab und an blinzelt sie oder nickt ein wenig mit dem Kopf. Inge Auerbacher sieht aus wie Inge Auerbacher, klingt so, spricht so, ist aber in diesem Moment nur wahrnehmbar, wenn man eine Virtual-Reality-Brille trägt.

»Erzähl mir von deiner besten Freundin«

Ein leichtes, aber dickes Gerät, das einen Raum durch die eigene Kopfbewegung erfahrbar, das Nähe und Distanz zugleich spürbar macht. »Mein Name ist Inge Auerbacher. Bitte sprich mich an. Schau dich um und frag mich über das, was du siehst. Ich freue mich auf unser Gespräch und die Beantwortung deiner Fragen«, sagt Auerbacher in der Brille. »Erzähl mir von deiner besten Freundin«, sagt eine Schülerin und hört dann zu.

Inge Auerbacher ist mittelgroß. Sie trägt eine schwarze Hose, eine dunkelblaue Bluse. Ihre Haare sind etwas länger als in der virtuellen Welt. Ihre schmalen, halb ovalen Augenbrauen öffnen das Gesicht, in dem ihr Leben steht. Die Hände gefaltet, sitzt sie auf einem gelben Stuhl. Neben ihr Amy Gutmann, die amerikanische Botschafterin, vor ihr Schülerinnen und Schüler des Leistungskurses Geschichte des Hannah-Arendt-Gymnasiums Potsdam.

»Ich möchte euch ein bisschen darüber erzählen, wo ich lebe, nämlich in Jamaica, Queens. Queens hat die vielfältigsten Bewohner im ganzen Land. Ich lebe neben einer Familie aus Bangladesch und einer indischen Familie mit sechs Kindern, drei von ihnen sind Ärzte, ausgebildet in den USA.«

Das sind einige der ersten Sätze, die die Teenager aus dem Mund der wahrhaftigen Inge Auerbacher hören. Gespannt sitzt die kleine Schülergruppe in der Hauptstadtrepräsentanz von Meta, hoch über dem Potsdamer Platz.

Die Zeitzeugen sind hochbetagt, können oft keine langen Reisen mehr auf sich nehmen.

Eine von ihnen ist Darleen Danneberg. Sie ist 16, hat in der ersten Reihe Platz genommen. Sie kann die betagte Dame, die sonst in New York lebt, mit allen Sinnen wahrnehmen, ihr direkt ins Gesicht sehen, die eigene Aufgeregtheit spüren, weil sie vor der Frau sitzt, deren Geschichte sie noch im Kopf und im Ohr hat.

In einer halben Stunde wird Darleen mit den Worten: »Das war mega!« aus dem Raum gehen. Sie wird wissen, wie es sich anfühlt, Inge Auerbacher selbst auf Englisch eine Frage zu stellen, sie wird die Antwort vielleicht erst später wirklich richtig für sich noch einmal abrufen. Darleen wird die Einzigartigkeit dessen erkennen, was ihre Mitschülerinnen und Mitschüler in dem Raum da gerade gemacht haben – nämlich sich mit einer Schoa-Überlebenden zu unterhalten.

Meta und StoryFile wollen sich im Sinne der Zeitzeugen engagieren.

Diese Chance werden viele junge Erwachsene nicht mehr haben, denn die Zeitzeugen sind hochbetagt, können oft keine langen Reisen mehr auf sich nehmen. Die Möglichkeiten, die Lebens­geschichten der jüngeren Generation trotzdem zu vermitteln, haben sich in den vergangenen Jahren enorm geändert. Waren es Anfang der 90er-Jahre noch die dokumentarischen Aufzeichnungen der Shoah Foundation, so sind es heute Hologramme wie das der 2021 verstorbenen Präsidentin des Illinois Holocaust Museum & Education Center, Fritzie Fritzshall, oder das der Schoa-Überlebenden und Cellistin Anita Lasker-Wallfisch.

Auch die Unternehmen Meta und StoryFile wollen sich im Sinne der Zeitzeugen engagieren. In Partnerschaft mit der UNESCO und dem Jüdischen Weltkongress haben Meta und StoryFile mit »Erzähl mir, Inge …« eine interaktive, deutschsprachige »Extended Reality (XR)«-Anwendung erstellt, mit der Schülerinnen und Schüler wie der Geschichtsleistungskurs aus Potsdam die Erinnerungen von Inge Auerbacher erleben können. Johannes Baldauf, Public Policy Manager bei Meta, und sein Team haben das möglich gemacht, was die Teenager nun sehen.

Die Geschichte von Inge beginnt 1934 im badischen Ort Kippenheim, wo sie geboren wurde. Auerbacher wuchs in Göppingen auf, bis sie mit sieben Jahren mit ihren Eltern von Stuttgart nach Theresienstadt deportiert wurde. Nach der Befreiung durch die Rote Armee am 8. Mai 1945 wanderte die Familie in die USA aus, nach New York. Inge machte ihren Abschluss am Queens College und wurde Chemikerin.

»God Bless America«, sagt Inge Auerbacher mit starker Stimme den Schülerinnen und Schülern zugewandt.

Noch heute ist Auerbacher dem Land, das sie aufnahm, dankbar: »God Bless America«, sagt sie mit starker Stimme den Schülerinnen und Schülern zugewandt. »Dem kann ich nur beipflichten«, betont Amy Gutmann, die manchmal Auerbachers Hände in ihre nimmt – beide Frauen scheinen sich Halt zu geben. Gutmanns Vater floh 1934 aus dem mittelfränkischen Feuchtwangen vor den Nazis in die USA. Im Mai wurden für die Familie des Vaters die ersten Stolpersteine in der Stadt verlegt.

Umso wichtiger ist es Gutmann, an diesem Treffen mit Auerbacher und den jungen Erwachsenen teilzunehmen. »Meine persönliche Erfahrung als Tochter eines aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchteten Juden bestärkt mich in meiner Entschlossenheit, demokratische Werte zu verteidigen und Antisemitismus zu bekämpfen. Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden wie Inge Auerbacher haben mir gezeigt, welche Aussagekraft ihre Geschichten haben und wie wichtig es ist, die Lehren aus der Geschichte an nachfolgende Generationen weiterzugeben«, fasst Gutmann zusammen.

»Ich finde es mega aufregend und bin mega gespannt.«

Darleen, Gymnasiastin aus Potsdam

Auf charmant-auffordernde Weise ermuntert die Botschafterin und ehemalige Uni-Professorin die Schüler an diesem Nachmittag immer wieder, die Schüchternheit zu überwinden und mit Inge Auerbacher wirklich ins Gespräch zu kommen, wirklich zu sagen: »Erzähl mir, Inge …«

»Keine Frage ist zu doof«, sagt die Schoa-Überlebende Inge Auerbacher.

Auerbacher ist seit fast vier Dekaden als Zeitzeugin auf der ganzen Welt unterwegs, ein Gespräch anzufangen, ist für sie mittlerweile das Natürlichste überhaupt. Sie macht es den Schülerinnen und Schülern leicht, wenn sie von ihrem Leben in New York spricht, wenn sie sie zu Respekt untereinander auffordert, ihnen erklärt, wie wichtig Bildung ist und mit wie viel Neugierde und Offenheit sie anderen begegnen sollen. Das fange übrigens schon in der Schule an. Respekt, Diversität, Bildung – das sei ihre Botschaft an die jungen Menschen. »Keine Frage ist zu doof«, sagt Auerbacher.

Und dann fassen sich die jungen Erwachsenen endlich ein Herz und – fragen, manchmal mit nervösen Händen, mit leisen Stimmen. Was sie zu ihren Büchern inspiriert habe, welches Land auf sie den größten Eindruck gemacht habe, wie interessant es sei, ihre Geschichte doch von ihr persönlich zu hören und nicht ausschließlich aus einem Buch oder wie schön die Bilder gezeichnet seien, die Inge Auerbacher in der virtuellen Realität umgeben. Auch sie finde die Bilder toll, sagt Auerbacher – wie jung sie aussehe. Schließlich sei sie ja auch 88 Jahre jung. Auch Darleen Danneberg stellt eine Frage: Die Schülerin will wissen, wie Inge Auerbacher damit umgehe, dass sie immer wieder das schreckliche Erlebte erzähle. Dann hört sie aufmerksam zu.

Vor dieser Begegnung war die Schülerin aufgeregt. Geraume Zeit zuvor hatte sie die VR-Brille abgesetzt, die Abdrücke waren noch als rote Spuren in Darleens Gesicht zu sehen. »Ich finde es mega aufregend und bin mega gespannt«, sagt sie. Einer so starken Persönlichkeit gegenüberzusitzen, sei beeindruckend. »Dass man so etwas überlebt und heute noch darüber erzählt, braucht so viel Stärke.«

»Erzähl mir, Inge …«

Inge Auerbacher ist die erste Schoa-Überlebende, die Darleen trifft. Von der Schule aus war die Teenagerin schon in einer Gedenkstätte, sie ist mit den Herausforderungen der Erinnerungskultur vertraut. Gerade deswegen, findet sie, sollten sich auch Erwachsene die Erinnerungen von Schoa-Überlebenden anhören und ansehen. »Jeder sollte darüber aufgeklärt werden.« Damit spricht sie Inge Auerbacher sicherlich aus der Seele.

Der Tag war anstrengend für die 88-Jährige, der Weg vom Flughafen an den Potsdamer Platz kein leichter, aber das Treffen mit den Schülerinnen und Schülern, die Unterhaltung mit ihnen und der Botschafterin Amy Gutmann, die Vertrautheit zu den Projektverantwortlichen bei Meta und die Aussicht auf das neue jüdische Jahr, all das lasse die Anstrengung weniger erscheinen, erzählt Auerbacher zum Schluss. Sie sitzt im Atrium über dem Potsdamer Platz, sie ist mittelgroß, ihre Hände sind gefaltet und liegen im Schoß. Sie ist wirklich da, und jeder sollte zu ihr sagen: »Erzähl mir, Inge …«

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