Jede Familie kennt das: Da gibt es den orthodox gewordenen Bruder, den wunderlichen Alten, die schrille Cousine und die emanzipierte Tante, die wilden Kinderlach und das Elternpaar in seinen 60ern, das die Familienfeier so harmonisch wie möglich gestalten will. Man streitet sich und setzt sich schließlich friedlich und gemeinsam an den Tisch, und es wird eine schöne Feier.
»Ein Dach, eine Familie« gab der Zentralrat der Juden als Motto für seinen Gemeindetag aus, und irgendwie hatte er von allem etwas. Jung und alt, liberal, orthodox, egalitär und traditionell. Man sprach, es fielen harsche Worte, und schließlich setzten sich doch wieder alle zum großen Dinner zusammen, hörten Musik und tanzten miteinander.
»Großartig, professionell, fantastisch, anregend, Wahnsinn«, fiel das Urteil der 1300 Teilnehmer einhellig und fast überschäumend aus. Flankiert durch die drei Keynotes – die Reden von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zur Begrüßung, Bundesjustizminister Heiko Maas zum Abschied und der Sexualtherapeutin Ruth Westheimer, die am Freitagmittag den voll besetzten Saal begeisterte mit ihrem Aufruf an die Ehepaare, sich für die Nacht der Nächte eine Stellung auszuwählen, die sie noch nie eingenommen hätten.
Hawdala Das Konzept des Zentralrats ging voll auf: Vier Tage Jüdischkeit, Gottesdienste mit mehr als 240 und 500 Personen, so etwas haben viele Gemeindemitglieder noch nie erlebt. Ein Gewusel von kleinen und größeren Kindern vor dem Kerzenzünden in der Lobby, ein Geräuschpegel, bei dem der eine oder andere sein Hörgerät ausschaltete – und trotzdem standen sie alle zusammen bei der Hawdala und hießen mit einem gesungenen »Schawua Tow« den Alltag wieder willkommen.
Sie machten gemeinsame Ausflüge, schauten sich Museen und Orte jüdischer Geschichte an, weinten und lachten zusammen. Sie kamen mit unterschiedlichen Biografien aus kleinen und großen Gemeinden und redeten sich darüber die Köpfe heiß, wie viel Pluralismus die Gemeinschaft braucht und wie viel sie vertragen kann.
Manche Teilnehmer sprachen erstmals darüber, dass ihre Eltern nie über ihre Erlebnisse während der Schoa geredet haben, anderen war dies selbstverständlich. Orly Licht von der WIZO Köln regte an, in allen Gemeinden Plattformen für den Austausch in der Zweiten Generation einzurichten. Eva-Debora Gramzow aus Hamburg fragte sich als Kind lange, warum ihr Vater stets eine schwarze Krawatte trug, und als Jugendliche traute sie sich, ihn darauf anzusprechen. »Es war seine Art der Erinnerung.«
Aufgewachsen sind sie und ihre Schwester zwar mit dem Wissen über das Schicksal der Eltern, aber auch mit der überfallartigen und überschüttenden Liebe der Traumatisierten. Und Heinz Freier aus Frankfurt hat sich vorgenommen, sich für Familien von Schoa-Überlebenden zu engagieren, sobald er wieder zu Hause ist. »Der Gemeindetag hat uns so viel gegeben, ich habe so viele neue jüdische Organisationen kennengelernt, nun will ich etwas zurückgeben.«
Child Survivor Noemi Staszewski, Sozialpädagogin und Psychotherapeutin, sagt, dass in Zukunft immer mehr die Gruppe der Child Survivors in den Fokus rücken wird. Vera Szackamer, die gemeinsam mit Präsidiumskollegin Barbara Traub den Gemeindetag konzipiert hatte und den Workshop »Die Schoa und kein Ende – Die Weitergabe von Traumatisierungen von Generation zu Generation« leitete, ist noch Tage danach »tief und nachhaltig beeindruckt« von dem, was sie erlebt hat.
Ja, es gab auch Brüche, Streit über die Deutungshoheit, etwa wenn es um die Frage von Giurim ging. Werden Übertritte anerkannt, wenn sie von nichtorthodoxen Rabbinern durchgeführt wurden, und sind die Neumitglieder in jeder Gemeinde willkommen? Ein Thema, das Rabbinerin Elisa Klapheck, der Osnabrücker Gemeindechef Michael Grünberg, Zentralratsvize Abraham Lehrer und die Autorin Barbara Steiner heftig diskutierten. Die Bruchlinie verlief zwischen liberal und traditionell-orthodox und schien kaum überbrückbar. Nicht, weil die Übergetretenen nicht anerkannt würden, sondern weil schon infrage gestellt wurde, ob einige liberale Rabbiner überhaupt dazu befähigt sind, Giurim vorzunehmen. Ein Problem, das nicht während der vorgegebenen eineinhalb Stunden gelöst werden konnte.
Und an derselben Linie entzündete sich auch die Diskussion darüber, wie denn die »Gemeinde 4.0«, also die Gemeinde im Jahr 2030, aussehen werde. Wird es weiterhin etwa 120 jüdische Gemeinden in Deutschland geben? Werden Landgemeinden, die heute weniger als 200 Mitglieder haben, die nächsten 20 Jahre überstehen? Erstmals, so Moderator und Zentralrats-Geschäftsführer Daniel Botmann, sank die Zahl der Gemeindemitglieder laut ZWST-Statistik 2015 unter die magische Grenze von 100.000.
»Sind unsere Gemeinden noch attraktiv?«, fragte Botmann in die Runde von Alon Meyer, Judith Neuwald-Tasbach, Jonathan Kreutner und Jonathan Heuberger. »Ganz eindeutig nein«, sagte Alon Meyer, Präsident von Makkabi Deutschland, und schlug vor, das Modell von Makkabi vielleicht auch einmal auf die Gemeinden anzuwenden, das heißt, diese auch für nichtjüdische Partner zu öffnen. »Können wir es uns leisten, Gemeindemitglieder zu verlieren, nur weil wir darauf achten, dass sie jüdische Ehepartner haben, sonst dürfen sie nicht Mitglieder sein?« Meyer musste sich gleich des Vorwurfs erwehren, dass dann nichtjüdische Partner Mitglieder werden könnten. Das bedeute die Verwässerung des Judentums und gar dessen Untergang, so die Mitdiskutanten im Publikum.
Hilfe aus Israel Jonathan Heuberger, ein Rechtsanwalt, der jetzt in Tel Aviv lebt und in seiner jüdischen Sozialisation die Gemeinden Frankfurt, Köln und Berlin kennengelernt hat, warb für Unterstützung, die sich Gemeinden aus dem Ausland holen sollten. Dem widersprach Meyer heftig: »Warum immer alles importieren, wir haben selbst Ideen und Leute.« Auf das Argument, kleine Gemeinden hätten sehr viel weniger Geld und könnten vieles nicht anbieten, entgegnete Meyer: »Dann ruft doch an, sagt, was ihr braucht, die großen Gemeinden können die kleinen unterstützen.«
Trotz aller Kontroversen über angeblich unprofessionelle Gemeindeführungen und überalterte Vorstände konnten sich die Gesprächsteilnehmer schließlich doch darauf einigen, dass dringend neue Konzepte für Gemeinden entwickelt werden müssen. Dazu bedürfe es möglicherweise eines gemeinsamen Nachdenkens, wie es die Vorsitzende der Gelsenkirchener Gemeinde, Judith Neuwald-Tasbach, vorschlug.
Alon Meyer appellierte, nicht zusätzlich Mauern aufzubauen. »So können wir keine Integration schaffen.« Jonathan Kreutner, Vorsitzender des Schweizerischen Gemeindebundes, schlug vor, mit alten Strukturen zu brechen und endlich anzuerkennen, dass die jüdische Gemeinschaft »in einer betriebswirtschaftlichen Welt lebt und danach handeln muss«. Gemeindemitglieder müssten das Gefühl bekommen, Teil einer modernen, dynamisch agierenden Gemeinschaft zu sein. »Mitarbeiter, die entsprechend gut entlohnt werden, tragen diesen Spirit weiter«, ist Kreutner überzeugt. Ideen, so wurde deutlich, gibt es. Sie müssen nur gesammelt, gebündelt und in neue Konzepte übertragen werden.
Definitionszwang Eines davon lieferte der Historiker und Autor des Buches Germanija, Dmitrij Belkin. Bei der völlig ausgebuchten Diskussion über deutsch-russisch-jüdische Identität und den »Zwang, sich zu definieren« sorgte er mit seiner These, die Zukunft der Juden in Deutschland sei aufgrund der Mitgliederstruktur »postsowjetisch«, für reichlich Zündstoff, der sich denn auch unmittelbar im verbalen Schlagabtausch zwischen »Alteingesessenen« und »Zuwanderern« entlud.
»Jüdische Identität kann auch säkular sein«, argumentierte Moderator Sergey Lagodinsky, Jurist und Publizist aus Berlin. Diese kulturell-historische Identität sei vor 25 Jahren von den Gemeinden, die von den Neuankömmlingen eine Anpassung an die religiöse und Schoa-definierte Identität erwartet hätten, nicht verstanden worden. Dabei seien die sowjetischen Biografien verschiedener Generationen von ganz anderen Aspekten geprägt gewesen: Scholem Alejchem, Antisemitismus, Roter Armee und nicht zuletzt der Nationalitätsangabe »jüdisch« im Pass und den daraus resultierenden Nachteilen, egal ob jüdische Mutter oder jüdischer Vater.
Sozialisation »Da wurden nicht wenige als Nichtjuden angesehen, die aber jüdisch sozialisiert waren«, betonte Lagodinsky. Bei so vielen Missverständnissen hätten vor allem Unbehagen und Spannungen die ersten Jahrzehnte nach der Zuwanderung geprägt. Und noch immer dränge sich die Frage auf, ergänzte Belkin, wie die »120.000 Zuwanderer außerhalb der Gemeinden« wahrgenommen würden.
Anastassia Pletoukhina brachte ein weiteres Thema zur Sprache. Die Studentenvertreterin und langjährige Leiterin des Lübecker Jugendzentrums plädierte dafür, junge Leute mehr in die Gemeinden zu integrieren – egal, ob diese von Zuwanderern oder Alteingesessenen dominiert werden.
Einig waren sich Referenten und Zuhörer darin, dass die Integration der verschiedenen Zuwanderergenerationen ein Prozess sei. Die meisten sehen ihn als »überaus gelungen« an, so wie Elena Buslowicz aus Flensburg. Sie meinte jedenfalls, sie sei »zu 100 Prozent angekommen in Deutschland«. »Unsere Gemeinde ist klein, wir sind wie eine Familie, 90 Prozent stammen aus der ehemaligen Sowjetunion, aber wir haben auch deutsche Juden, ungarische, amerikanische, tschechische, rumänische und dänische.«
Zusammenhalt Das Gefühl, »zu einer Familie zu gehören«, habe sie auf dem Gemeindetag gespürt. Das bleibe »für immer«, das nehme sie mit. Dass die Identitätsfrage und der Zwang, sich zu definieren, überhaupt so selbstbewusst auf dem Gemeindetag thematisiert wurden, sei doch ein gutes Zeichen, meinte sie. Schließlich müsse die Familie zusammenhalten. So zeigte der rege Zulauf zu der spannungsgeladenen Diskussion vor allem eines: Es gibt noch viel Gesprächsbedarf und mehr Fragen als Antworten.
Die jüdische Gemeinschaft steht vor großen Herausforderungen, betonte auch Zentralratspräsident Josef Schuster und nannte unter anderem die Überalterung der Gemeinden und den Verlust der mittleren Altersgruppe, also der Mitglieder zwischen 25 und 45 Jahren.
Die Familie ist groß, das hat sich in den vier Tagen in Berlin gezeigt. Sie kam aus allen Richtungen. »Ich bin nicht als Funktionär hier, sondern als Genießer«, sagte Michael Rado, der mit seiner Frau Rachel vom Rhein an die Spree gekommen war. Und wie die beiden Kölner sahen es viele. Sie ließen sich verwöhnen – von einem perfekten Team, wie Schuster betonte: der Mannschaft des Hotels und dem Organisationsteam des Zentralrats um Daniel Botmann und Eventmanagerin Beatrice Loeb. Doch all das sei nichts ohne die Mitglieder. »Sie sind das Fundament.« Und so heterogen sie auch waren, sie erwiesen sich als eine große Familie mit allen ihren Typen, die den Reiz der Gemeinschaft ausmachen.