Sie ist eine jung wirkende alte Dame, die Lebenserfahrung, Freude, Optimismus und Humor ausstrahlt. Da verwundert es eigentlich nicht mehr, dass Marga Spiegel an diesem Donnerstag 100 Jahre alt wird. Es ist ein bewegender Film, der die Münsteranerin überregional bekannt gemacht hat: Unter Bauern – Retter in der Nacht. Der Streifen basiert auf den Lebenserinnerungen der gebürtigen Bad Hersfelderin, die 1969 unter dem Titel Retter in der Nacht erschienen.
In dem Buch schildert sie, wie couragierte Bauern im Münsterland ihren Mann versteckt und sie selbst mit ihrer Tochter unter falschem Namen von 1943 bis 1945 aufgenommen hatten. Mit dem, was sie mit ihrem Werk bewirkt hat, ist sie heute hochzufrieden: »Ich wollte damit allen Menschen meinen Dank aussprechen, die mir aus ihrer Güte oder ihrer Religion heraus geholfen haben«, betont sie.
Herzblut Die Autorin und Hauptfigur dieser Überlebensgeschichte wirkt ebenso charmant wie resolut, sympathisch wie willensstark, wenn sie über die eigene dramatische Lebensgeschichte spricht. Sie ist eine Dame im besten Sinne des Wortes, die aber zugleich direkt und handfest ist und häufig in Schulen spricht, um die Erinnerung an die Schreckenszeit aufrechtzuerhalten.
»Das ist aufwühlend«, schildert Spiegel ihre Gefühle dabei. »Die Erinnerung an damals ist nicht möglich, ohne das eigene Herzblut hineinzulegen.« An eine Verfilmung ihres Lebens hätte die betagte Tante des ehemaligen Zentralratspräsidenten Paul Spiegel sel. A. nie gedacht. Doch die Schauspielerin Veronica Ferres, die Marga Spiegel im Film darstellt, schwärmt: »Es ist ein großes Geschenk, eine Frau spielen zu dürfen, die ich zutiefst bewundere. Diese Rolle war etwas ganz Besonderes.«
Marga Spiegel wurde am 21. Juni 1912 als Marga Rothschild in Hersfeld geboren. Sie lebte mit ihrer Familie und 40 anderen jüdischen Familien im hessischen Dorf Oberaula. Ihr Abitur legte sie 1933 auf einem Gymnasium in Frankfurt ab. Das Studium musste sie nach dem ersten Semester abbrechen, weil sie von den Nazis von der Universität verwiesen wurde. Später heiratete sie Siegmund Spiegel und zog mit ihm nach Ahlen; ein Jahr später kam ihre Tochter Karin zur Welt.
Marga Spiegels Vater wurde in das KZ Sachsenhausen deportiert, wo er bald starb. »Die offizielle Todeserklärung lautete: ›innere Blutungen‹«, erzählt Marga Spiegel mit Bitterkeit in der Stimme. »Der Sarg wurde nach Ahlen überführt, doch für die Kosten musste ich selbst aufkommen.« 1940 floh die Familie Spiegel aus Ahlen – zunächst nach Dortmund und drei Jahre später zu Bauern ins Münsterland.
Angst Oft musste sie ihre Unterkunft aus Furcht vor Entdeckung wechseln. Im Oktober 1944 gelang es Marga Spiegel, sich neue »arische« Papiere zu beschaffen. »Ab jetzt hieß ich Marga Krone«, sagt sie. Mit den neuen Ausweisen konnten Mutter und Tochter ohne allzu große Angst, als Juden denunziert zu werden, bis zum Kriegsende im Münsterland leben. Als der Krieg im Mai 1945 zu Ende war, bot sich schon bald die Chance, nach Ahlen zurückzukehren. Marga blieb bis zum Tod ihres Mannes dort und zog erst 1992 nach Münster, wo sie heute noch lebt.
Ruth Weiss, 88-jährige Journalistin und Publizistin aus Lüdinghausen, sieht in Marga Spiegel »ein Symbol der alten Generation, die sich bewusst als Deutsche jüdischen Glaubens betrachten«. Spiegel habe zu einer Zeit über den Holocaust geschrieben, als dieser überhaupt noch kein Thema gewesen sei.
»Die Begegnung von Christen und Juden nach dem Krieg war in Deutschland sehr problematisch. Dass sie bereit war, hier zu bleiben, weiterzumachen und sich für das Miteinander und die Versöhnung einzusetzen, war etwas Neues und Besonderes«, lobt Ruth Weiss. Marga Spiegel selbst hat einen eigenen Blick auf ihre Lebensgeschichte: Ihr kommen ihre 100 Lebensjahre manchmal kurz und manchmal lang vor, je nach Stimmung.
Lebensphasen Und sie hat den Eindruck, dass sie eigentlich viermal gelebt hat: fast 21 Jahre ein relativ behütetes Leben, dann neun Jahre als Jüdin unter Hitler mehr und mehr Repressalien ausgesetzt sowie drei Jahre zwar von mutigen Menschen auf Bauernhöfen im Münsterland versteckt, aber dennoch immer in Todesangst lebend. Und schließlich 67 Jahre als geretteter Mensch, aber daran leidend, dass viele Familienmitglieder ermordet wurden.
Ihr Alter macht sich dann doch ein wenig bemerkbar. Am Ende des Gesprächs bekommt die alte Dame Atemnot. »Die Aufregung setzt mir manchmal eben doch zu, wenn ich an die Geschichte von damals denke«, sagt sie. »Manche Nacht kann ich deshalb nicht gut schlafen.« Trotzdem sind ihr Lebensmut und ihr Tatendrang ungebrochen, ist sie kurz vor ihrem 100. Geburtstag so lebhaft, schlagfertig, witzig und voller Pläne wie eh und je.
Die Tage erscheinen ihr manchmal zu kurz für ihre vielen Pläne. »Ich habe viele junge Freunde, werde oft eingeladen«, berichtet sie. Gern sitzt sie auch auf ihrem Balkon und versucht, jeden Tag zu genießen. Und das Reisen ist nach wie vor ihre große Leidenschaft: In den vergangenen Jahren war sie in San Francisco, in Jerusalem und Paris. Darüber hinaus fährt sie mit ihren Kindern in den Urlaub – und ist dankbar dafür, dass sie das alles noch kann.
Ehrung Am 21. Juni ehrt die Jüdische Gemeinde Münster Marga Spiegel mit einem Benefizkonzert im Adelspalais »Erbdrostenhof«. Unter dem Motto »Le Dor va Dor – Von Generation zu Generation« präsentieren Jochen Fahlenkamp, Kantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und Instrumentalist Boris Rosenthal traditionelle jüdische Lieder.
Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU) hat die Schirmherrschaft über das Konzert übernommen und betont die Bedeutung Marga Spiegels für die westfälische Metropole: »Wenn wir Marga Spiegel hochleben lassen, dann ist dies gleichzeitig Ausdruck des Dankes an sie persönlich sowie für ihr Lebenswerk. Die Stadt Münster und Deutschland können stolz auf diese Frau sein.«
Es sei ein Wunder, mit wie viel Würde und Kraft Marga Spiegel ihr Leben in Deutschland habe weiterführen können. »Sie hat durch ihr Wirken und ihre Werte mit dazu beigetragen, dass aus der grausamen Vergangenheit Deutschlands ein Ort des Friedens werden konnte«, sagt Lewe.