Berlin

Vier Arten für ein Fest

Motti Moscovicis Augen entgeht nichts. Konzentriert hält der 30-jährige Berliner einen Etrog ins Licht und sucht nach kleinen schwarzen Punkten, die die länglich-ovale Zitrusfrucht unkoscher machen könnten. Sein Blick wandert prüfend den unteren Stachel entlang, dann weiter nach oben, wo der Etrog wieder schmaler wird. »Sehr gut«, befindet er nach einer Viertelstunde. »Die Frucht ist fast makellos.« Koscher, lautet sein Urteil.

Zufrieden legt Moscovici den Etrog in die Einkaufstasche und geht weiter zu den Tischen mit den Lulavim. Auch diese überprüft er so aufmerksam, als handele es sich um Diamanten und nicht um Palmenzweige. Eine Lupe, wie die Männer rechts und links von ihm, benutzt er zwar nicht, doch auch ohne sie dauert sein Sukkot-Einkauf insgesamt nun schon mehr als eine halbe Stunde.

Experiment Wer wie Moscovici am Montagabend den Arba-Minim-Markt im Lauder-Yeshurun-Zentrum in Prenzlauer Berg besucht, hat viel Zeit mitgebracht. »Bis man sich sein persönliches Set für Sukkot zusammengestellt hat, können schon mal ein paar Stunden vergehen«, weiß ein Verkäufer aus der Schweiz. Er ist mit seinem Markt zum ersten Mal in Deutschland vertreten. »Es ist in gewisser Weise ein Experiment. Mal schauen, wie das Angebot angenommen wird«, sagt er entspannt.

Auf insgesamt zwölf großen Tischen werden die Sachen angeboten, die zu Sukkot dazugehören wie Honig zu Rosch Haschana: Hadassim (Myrtenzweige), Arawot (Bachweidenzweige), Etrogim und Lulavim. Rund ein Dutzend Kunden stehen an den Tischen und begutachten die Arba Minim (die vier Arten). Einer von ihnen ist David Lanier (Name von der Redaktion geändert). Der 71-Jährige ist durch Zufall auf den Verkauf aufmerksam geworden. Vor wenigen Stunden hat er einen entsprechenden Aushang im jüdischen Hermann-Strauß-Pflegeheim in der Herbartstraße gesehen.

In seinem Jogginganzug und den Sportschuhen fällt Lanier zwischen den zumeist jungen Männern auf. Zusammen mit seinem Kollegen ordert er zwei Arba-Minim-Sets.

Frauen Ob Claudia Offenbach wie Lanier ebenfalls Etrog, Lulav, Hadassim und Arawot kaufen wird, weiß sie noch nicht. Sie ist eine der wenigen Frauen, die den Markt besuchen. Wie alle anderen geht sie von Tisch zu Tisch und prüft die vier Arten eingehend. »Ich bin noch unentschlossen«, sagt die 45-jährige Rabbinatsstudentin. »Sonderlich günstig ist es hier ja nicht.«

In der Tat lassen sich die Kunden ihren Einkauf einiges kosten. Die Kinder-Sets sind für 19,90 Euro zu haben, die für Erwachsene beginnen bei 30 Euro und hören bei 105 auf. »Teuer? Alles eine Frage des Standpunkts«, sagt der Verkäufer. In den USA würden Etrogim von über 1.000 Dollar das Stück verkauft. »Dagegen sind wir äußerst günstig. Und an Sukkot mit den vier Arten den Segen zu sprechen, ist eine Mizwa. Da sollte man nicht geizig sein.«

Trotz der stolzen Preise ist Claudia Offenbach von der Idee eines eigenen Marktes in Berlin begeistert. »So etwas stärkt die jüdische Identität«, ist sie überzeugt. Es mache einen großen Unterschied, ob man seine Arba Minim im Internet bestelle und auf »Enter« drücke oder die vier Arten »selbst anfassen, riechen, überprüfen und auswählen kann«. Es gehe nicht allein darum, die Mizwa auszuüben, wichtig ist auch, sie besonders schön auszuüben.

Ben Zion Chasid nickt mit dem Kopf. Das Ritual, an Sukkot die Arba Minim zu schütteln, sei für das Judentum essenziell, erklärt der Schulrabbiner der Lauder Beth-Zion Grundschule. »Mit Ausnahme des Schabbats werden sie an jedem Tag von Sukkot beim Gebet eng beieinander gehalten. Dann wird ein Segen über sie gesprochen, und sie werden in alle vier Himmelsrichtungen sowie nach unten und nach oben bewegt. Damit beten wir für eine gute Ernte und Regen«, erklärt er.

Mittelzweig Wichtig sei vor allem auch, dass die Arba Minim möglichst makellos seien, so der Rabbiner. Der Etrog beispielsweise symbolisiere das menschliche Herz. Genau wie dieses muss die Frucht also möglichst rein sein. Beim Lulav hingegen sei der Mittelzweig am Wichtigsten. »Er muss unbedingt geschlossen sein«, erklärt er. »Genauso wie das jüdische Volk.«

Nach und nach hat sich der Markt gut gefüllt. Etwa 80 Käufer haben sich inzwischen eingefunden und begutachten die Arba Minim. Kinder laufen spielend um die Myrtenzweige, während am anderen Ende des Raumes ein Streit über die Frage entbrannt ist, ob man die vier Arten zum letzten Mal am Sonntag kommender Woche oder am Tag darauf zum letzten Mal benötigt.

Und auch der Verkäufer hat mittlerweile alle Hände voll zu tun. Er kassiert, gibt Auskunft und versichert seinen Kunden: Ja, die Arba Minim wurden allesamt aus Israel importiert. Nein, beim Kauf von vier Packungen Hadassim gibt es keinen Preisnachlass. Oder doch, korrigiert er sich – vorausgesetzt, man kaufe auch vier Packungen der restlichen Arten dazu.

Mittlerweile hat Motti Moscovici seinen Einkauf beendet. »Ich finde es super, dass die Gemeinde in Berlin mittlerweile so groß ist, dass es Bedarf für einen Arba-Minim-Markt gibt und sich das Ganze mittlerweile offenbar auch finanziell lohnt.« Während in regelmäßigen Abständen immer wieder zu lesen sei, ob es tatsächlich schon wieder so etwas wie ein funktionierendes jüdisches Leben in der Hauptstadt gebe, werde hier Jüdischkeit einfach gelebt. »Das ist großartig. Ein gutes Zeichen.«

Kinder Alles andere als begeistert ist hingegen der elfjährige Jacob. Unzufrieden steht er vor einem kleinen Tisch mit rund ein Dutzend Lulavim für Kinder. »Ist das alles?«, fragt er. »Hier liegen die Sachen, die qualitativ nicht für die Erwachsenen gereicht haben«, erklärt der Verkäufer – und schiebt gleich nach: »Natürlich sind auch die Kinder-Sets koscher, nur eben etwas weniger vollkommen als die für Erwachsene.«

Dennoch ist Jacob enttäuscht. »Die Auswahl für Kinder ist ganz schön klein, finde ich. In Israel ist sie viel größer, das gefällt mir besser.« Gleichwohl freut er sich schon jetzt auf Sukkot. Mit seinem Vater baut er in diesen Tagen im Garten eine eigene Laubhütte. »Das mag ich besonders«, sagt er lächelnd. »Manchmal nehme ich mir einfach etwas von dem Obst, das unter dem Dach der Laubhütte hängt.«

Nach rund drei Stunden ist alles vorbei. Geschafft sitzt der Verkäufer in einer Ecke des Raumes. Mit einem solchen Andrang habe er nicht gerechnet. »Das hat sich definitiv gelohnt. Aber jetzt kann ich nicht mehr.« In einer Mischung aus Erschöpfung und Ausgelassenheit blickt er auf die fast leeren Tische – und freut sich bereits aufs kommende Jahr. Dann nämlich soll der Arba-Minim-Markt wegen des großen Andrangs in den Räumen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin stattfinden und vielleicht noch mehr Menschen erreichen.

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