Gemeindetag

Vielfältige Einheit

So bunt, so vielfältig, so pluralistisch waren bislang noch kein Gemeindetag und keine Ratsversammlung. Die Vielfalt in der Einheitsgemeinde war deutlich zu spüren.

700 Teilnehmer am Gemeindetag in Berlin diskutierten zum Teil heftig über Tradition und Moderne in der Religion – erlebbar auch beim Freitagabendgebet, das ursprünglich als gemeinsame Veranstaltung geplant, schließlich doch in zwei getrennten Räumen durchgeführt wurde, weil die Mechiza für die Liberalen etwas zu hoch ausgefallen war – angeblich, weil das Hotel keine anderen Trennwände zur Verfügung stellen konnte.

Und dennoch, im Fazit waren sich tatsächlich fast alle einig – so viel Jüdischkeit hatten sie lange nicht mehr erlebt. Das Hotel an der Budapester Straße war fest in jüdischer Hand. Orthodoxe, konservative, liberal denominierte Teilnehmer kamen auf ihre Kosten. Orthodoxe Rabbiner sprachen von ihren Freunden aus der Allgemeinen Rabbinerkonferenz. Zentralratspräsident Dieter Graumann erhielt beim liberalen und beim orthodoxen Gottesdienst eine Alija. Die rund 40 Kinder sprangen fröhlich durch die Gänge des Hotels und wurden vom »Bambinim«-Team betreut.

Machane So war die Einstimmung auf das große Fest, das Dieter Graumann ganz zu Beginn der Planung auch schon als »Mini-Machane für Erwachsene« bezeichnet hatte, zum Kennenlernen geeignet: mit Ausflügen auf den Spuren jüdischer Architekten oder bei Segway-Touren durch den Berliner Tiergarten. Orna Marhöfer aus Mannheim »war tief beeindruckt« vom Besuch in der Wannsee-Villa.

Inga Levinson aus Wiesbaden und Alexander Poliakov aus Hamburg fütterten unterdessen mit Begeisterung die Flusspferde im Berliner Zoo. Young Professionals hatten die Möglichkeit, sich im Hotel mit ihren Mentoren, wie beispielsweise der Schriftstellerin Lea Fleischmann und der Germanistikprofessorin Heidrun Deborah Kamper, zu treffen.

Workshops Rund 25 Workshops standen am Freitag und Samstag auf dem Programm. Das vielfältige Programm reichte von Politik bis Halacha. Einziges Manko: Die Veranstaltungen fanden an den beiden Tagen parallel statt. Viele der Teilnehmer des Gemeindetages bedauerten, dass sie daher insgesamt nur zwei von den Workshops besuchen konnten, die alle mit hochkarätigen Referenten besetzt waren.

So zum Beispiel der Workshop zu den türkisch-israelischen Beziehungen. Auf dem Podium saßen hier die beiden Botschafter Hüseyin Avni Karslioglu und Yakov Hadas-Handelsman. Kontrovers wurde das Thema »Jüdische Religion zwischen Tradition und Moderne« diskutiert. Hier lieferten sich die Rabbiner Henry G. Brandt und Elisa Klapheck von der Allgemeinen Rabbinerkonferenz mit Arie Folger (Orthodoxe Rabbinerkonferenz) und Joshua Spinner vom Rabbinerseminar zu Berlin heftige Auseinandersetzungen.

Die Gefahren in der Gesetzgebung zur Beschneidung sind noch nicht gebannt, warnte Leo Latasch, selbst Anästhesist sowie Unfallarzt aus Frankfurt und Teilnehmer des Panels zur »Beschneidungsdebatte«. Der Tübinger Professor Edward Schramm stellte detailliert die juristische Sichtweise auf diese im vergangenen Jahr erbittert geführte Auseinandersetzung dar. Erschreckend in diesem Zusammenhang waren auch die Hassmails, die an Befürworter der religiösen Beschneidung gegangen waren.

Er selbst sei davon nicht verschont worden, erzählte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Nikolaus Schneider, der am Donnerstagabend mit dem Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland geehrt worden war. Schneider bedauerte den zunehmenden Säkularismus der Gesellschaft, in der Religiosität begründungspflichtig werde.

Im Workshop »Terrorismus – Die Welt am Abgrund?« kritisierte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen die deutsche Haltung, den Kampf gegen Terror den Amerikanern zu überlassen. »Wir lehnen uns zurück«. Politikwissenschaftler Lars Rensmann machte die »gescheiterte Integration« für das einheimische islamistische Milieu verantwortlich.

Renten Ein zutiefst innerjüdisches Problem stand beim Panel »Würde im Alter« auf der Tagesordnung. Moderator Abraham Lehrer machte klar, wie hoch die Zahl der von Altersarmut Betroffenen in der jüdischen Gesellschaft ist. Benjamin Bloch, Direktor der ZWST, forderte daher die Zuhörer auf, Ideen zu entwickeln, wie das Problem auch in die nichtjüdische Öffentlichkeit kommuniziert werden könne. »Armut ist entwürdigend«, betonte Dalia Wissgott-Moneta, Leiterin der Sozialabteilung in Frankfurt.

Als Vertreter der Politik hatte sich nach der Absage der Staatssekretärin im Bundesministerium Arbeit und Soziales, Annette Niederfranke, der Bundestagsabgeordnete Volker Beck (Die Grünen) zur Verfügung gestellt und übernahm es – neben der Forderung seiner eigenen Partei, Zuwanderer mittels Fremdrentenrecht den Spätaussiedlern gleichzusetzen – auch noch, die Regierungslinie darzustellen.

Kurz vor Schabbat stellte sich schließlich das Präsidium als komplette Mannschaft vor. »Wir sind ein Team!«, betonte Dieter Graumann und hatte damit sofort den einleitenden Worten des Moderators Doron Kiesel widersprochen, der die zwei Frauen und sechs Männer an Graumanns Seite als »Unterstützer« bezeichnet hatte. Jeder habe eine wichtige Aufgabe, der Zentralrat sei »keine One-Man-Show«.

Am Samstagabend fand im festlich geschmückten großen Saal des Hotel InterContinental die große Gala des Gemeindetages statt. Gleichgültig, ob die Vorspeise schon gegessen war, spätestens bei der Aufforderung der Showband Broadway – »put your hands up in the air« – eilte auch noch der Letzte auf die Tanzfläche zur gemeinsamen Hora. Die israelische Sängerin Shiri Maimon ließ die Gäste wieder etwas zur Ruhe kommen. Doch leer war die Tanzfläche bis in die frühen Morgenstunden nie.

ratsversammlung Die Ratsversammlung am Sonntag stand dann ganz im Zeichen des Besuchs von Bundespräsident Joachim Gauck. Tagungspräsident Daniel Neumann ermahnte alle, den minutiösen Ablaufplan präzise einzuhalten. Selbst die Grußworte der Rabbinerkonferenzen waren auf eine Minute Redezeit beschränkt worden. Arie Folger von der ORD dankte für einen »außergewöhnlichen Schabbes. Wenn wir diesen Geist in die Gemeinden einfließen lassen, können wir alle Herausforderungen lösen«, sagte er. Jonah Sievers aus Braunschweig hob für die Allgemeine Rabbinerkonferenz lobend die Vielfalt beim Gemeindetag hervor. So könne die Einheitsgemeinde gestaltet werden.

Auch Zentralratspräsident Dieter Graumann gestaltete seinen Rechenschaftsbericht knapp und präzise. Bei seinem »politischen Rundgang« sprach er die im Januar geführte Debatte um den fahrlässigen Umgang mit antisemitischen Klischees durch den Journalisten Jakob Augstein an.

Das Simon Wiesenthal Center hatte dessen Kolumnen auf die Liste der zehn schlimmsten antisemitischen Äußerungen gesetzt. Graumann kritisierte nochmals, dass ARD und ZDF ihrem öffentlich-rechtlichen Auftrag nicht nachgekommen seien, als sie am 27. Januar statt der Übertragung der Bundestagsrede von Inge Deutschkron zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus eine Kochsendung und anderes im Programm hatten.

Graumann griff die Vollversammlung des World Jewish Congress in Budapest auf und lobte die Rede des deutschen Außenministers Guido Westerwelle. Der Zentralratspräsident erinnerte an die »schlimme Schechita-Debatte« in Polen und die »Stürmer-reife Karikatur, in der Israel als gefräßiges Monster« dargestellt wurde, die die Süddeutsche Zeitung im Juli veröffentlicht hatte.

Der fremdenfeindliche Angriff in Hellersdorf ließ Graumann daran erinnern, dass sich Juden gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit einsetzen. »Wir kümmern uns auch um andere, die ausgegrenzt werden.« Die EU-Richtlinien aus Brüssel, die indirekt zu einem Boykott israelischer Waren, Dienstleistungen und Wissenschaftstransfers führten, standen ebenfalls auf Graumanns Liste. Schließlich sprach er über das Nuklearabkommen mit dem Iran, dessen »Scheinfriedenspräsident« er zutiefst misstraut.

Bei der Sicht auf die Arbeit des Zentralrats selbst lobte der Präsident alle, die daran mitgewirkt haben. »Wir haben versprochen, Neues in Gang zu setzen, das haben wir getan.« Da sei die Bildungsabteilung zu nennen. Die Jewrovision war ein gelungenes Megaevent mit 1000 Zuschauern und 800 jugendlichen Mitwirkenden. Der Runde Tisch der jüdischen Nichtregierungsorganisationen habe neue Vernetzungen geschaffen, die neuen Medien brachten dem Zentralrat viele Fans auf Facebook ein. Das Online-Portal »Zentrakol« gibt Gemeinden und Landesverbänden die Möglichkeit, Termine untereinander abzustimmen und auszutauschen. Künstler können darüber ihre Bühnenauftritte organisieren.

Drängende politische Themen sind für Graumann vor allem die drohende Altersarmut und Rentenfrage von Zuwanderern sowie die Ghettorente, die längst beschlossen sei, praktisch jedoch kaum umgesetzt werde. »Während deutsche Beamte prüfen, sterben uns die Menschen weg«, kritisierte Graumann den Bürokratismus. Nach wie vor fordert der Zentralrat ein NPD-Verbot und die Beteiligung der Bundesregierung am Antrag des Bundesrates, der schließlich noch in diesem Jahr eingebracht werden soll.

FAzit Sein Fazit des vergangenen Jahres und des Gemeindetages fiel durchweg positiv aus. »Wir haben unser Wir-Gefühl gestärkt.« Zügig ging es bei der Ratsversammlung weiter. Die Delegierten entlasteten die Führungsgremien des Zentralrats für das Haushaltsjahr 2012 – mit Ausnahme der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, deren fehlenden Haushaltsplan Salomon Korn mit verheerenden Personalproblemen begründete. Der Haushalt 2014 wurde mit einem Minus von rund einer Million Euro in einem Umfang von knapp 11,5 Millionen Euro gebilligt.

Stehenden Applaus zollten schließlich rund 800 Teilnehmer dem Bundespräsidenten. Joachim Gauck freute sich über das »Festival des Judentums« an den vergangenen drei Tagen. Bei einem Gespräch erzählte er sehr private Details, wie er sich das Wissen um das Schicksal von Juden im Holocaust und des jüdischen Volkes buchstäblich erarbeitet habe.

»Rundum gelungen« fand Alfred Jacoby den Auftritt des Bundespräsidenten. Er sei tief beeindruckt von Gauck, sagte der Architekt und Gemeindevorsitzende aus Offenbach. Dass es andere Einschätzungen geben könnte, wollte ihm gar nicht in den Sinn kommen. Ebenso äußerte sich Rabbiner Henry G. Brandt: »Sehr mutig, beeindruckend und aufgeschlossen.« Das kann auch als Fazit für die gesamten Berliner Tage gelten.

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