Viele meinen ja, dass der Vorabend der Ratsversammlung spannender und interessanter ist als die Tagung an sich», begrüßte Zentralratspräsident Josef Schuster die Gäste zum obligatorischen Samstagabendessen. So reibungslos, wie die Ratstagung am Sonntag verlief, konnte man glatt meinen, dass Schuster recht behielt. Die Gespräche während des Dinners am Samstagabend, in der Bar, im Foyer oder in der Lounge waren anregend und dauerten bei nicht wenigen bis weit nach Mitternacht.
Die 77 Delegierten, Gäste und zahlreichen Rabbiner der Allgemeinen und Orthodoxen Rabbinerkonferenz fanden sich dennoch am Sonntag wieder pünktlich im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum der Frankfurter Gemeinde ein, um Bilanz zu ziehen und den Haushalt des Zentralrats über rund 15 Millionen Euro zu verabschieden.
Geleitet von dem schon eingespielten Tagungspräsidium Judith Neuwald-Tasbach aus Gelsenkirchen, Alexander Schraga aus Bochum und Daniel Neumann aus Darmstadt, entboten die Rabbinerkonferenzen ihre Grüße an die Delegierten. Für die Allgemeine Rabbinerkonferenz warnte Henry G. Brandt: Vor lauter Euphorie des Beisammenseins dürfe man nicht vergessen, dass die Zeichen auf Sturm stehen. Und er bat die Delegierten, trotz aller Differenzen an die gemeinsame Verantwortung zu denken.
Grussworte Frankfurts Gemeinderabbiner Avichai Apel erinnerte für die Orthodoxe Rabbinerkonferenz an Jizhak und seine Söhne Jakow und Esaw und fragte: Wie soll das Judentum heute aussehen und dazu Stellung beziehen? Apel wünschte sich eine friedliche Tagung, die Zeichen setzt, dass auch in den Gemeinden friedlich verhandelt werde.
Ein deutlicher Beweis des Miteinanders, schloss Zentralratspräsident Josef Schuster an diese Rede an, zeige sich darin, dass ein orthodoxer Rabbiner einem liberalen das Mikrofon zurechtrücke, das habe es vor 20 Jahren nicht gegeben. Schuster zog in seinem Jahresrückblick Bilanz: politisch, gesellschaftlich, innerjüdisch. Mit der Erinnerung an die Verstorbenen, runde Geburtstage und Ehrungen widmete sich der Zentralratspräsident zunächst innerjüdischen Belangen.
Highlights seien für ihn die Besuche zum 20-jährigen Bestehen des Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern gewesen. Die Arbeit, die hier unter der Mitwirkung des Landesverbandsvorsitzenden Valeriy Bunimov und der Rabbinerpersönlichkeit eines William Wolff geleistet worden sei, nannte Schuster «vorbildlich».
Er sei im Sommer zu Gast bei der Jahrestagung der Union progressiver Juden in Bad Godesberg gewesen und freue sich über den regen Austausch unter 250 Juden. Man dürfe sich nicht als liberal oder orthodox auseinanderdividieren lassen, hob Schuster das Hebräisch-Lehrbuch des Hildesheimer Rabbinerseminars hervor und sprach von der kommenden Ordination zweier Rabbiner und eines Kantors, Absolventen des liberalen Abraham Geiger Kollegs. «Ich freue mich nicht, dass junge Rabbiner ihr Heil im Ausland suchen, weil sie in Deutschland keine Anstellung bekommen», kritisierte Schuster jedoch.
Schulen Jubiläen und Eröffnungen jüdischer Schulen seien für ihn ebenfalls herausragende Ereignisse gewesen. 50 Jahre Lichtigfeld-Schule in Frankfurt: «1966 eine jüdische Schule zu gründen, erforderte Mut.» Die Entwicklung zeige, wie richtig diese Entscheidung gewesen sei. Am 24. August folgte die Eröffnung des Albert-Einstein-Gymnasiums in Düsseldorf sowie am 13. September die des Jüdischen Gymnasiums in München.
Ein großes Fest sei auch die Jewrovision in Mannheim gewesen. Dass in diesem Jahr wieder Mannheim den ersten Platz belegt habe, zeige, wie gut die Jugendarbeit dort sei. Doch der Gesangswettbewerb sei nicht nur ein tolles Riesenevent gewesen. «Wenn ich sehe, dass 1000 Jugendliche am Gottesdienst teilnehmen, geht mir das Herz auf.» Mit den Deutschen Makkabi-Meisterschaften in Duisburg sei der jüdische Sport in Deutschland ebenfalls auf einem sehr guten Weg.
In seiner einstündigen Rede ging Schuster aber auch auf die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt und das Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD) ein. Den Wählern dieser Partei müsse klar werden, «hinter wem sie herlaufen und wem sie ihre Stimme geben», mahnte Schuster. Scharfe Kritik übte er auch an einem Beitrag in den ARD-Tagesthemen über die angeblich vorsätzliche Verknappung der Wasserversorgung für Palästinenser durch Israel. Es werde noch ein Gespräch mit dem zuständigen Sender geben.
Terror Vor knapp zwei Jahren habe er noch abgewunken – einen Anschlag wie den auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» am 7. Januar 2015 könne er sich in Deutschland nicht vorstellen. Heute beurteile er die Lage anders. Die Anschläge von Würzburg, Amberg und München deuteten in eine andere Richtung. Gerade der Würzburger Attentäter galt als gut integriert.
In diesem Zusammenhang sei es absolut wichtig, eine Antwort auf die Frage «Was kann man tun, um eine Integration erfolgreich zu gestalten?» zu finden. Die Sorge von Gemeindemitgliedern vor islamischem Antisemitismus müsse man ernst nehmen. Expertengespräche über Antisemitismus seien unwirksam, wenn ihre Ergebnisse in Schubläden verschwinden. Außerdem habe er bereits Gespräche mit der Linken und den Grünen zu diesem Thema geführt, die Anlass zur Hoffnung gäben.
«Das ist Ihre Stunde», kündigte Tagungspräsident Daniel Neumann die Aussprache der Delegierten an. Dabei monierte der Mannheimer Gemeindevorsitzende Majid Khoshlessan die von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ausgestrahlten Talkrunden, an denen AfD-Politiker teilnehmen. Der Rektor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, Johannes Heil, mahnte, aufzupassen, dass die Dinge nicht aus dem Ruder laufen. Die Situation in Deutschland sei zwar nicht mit 1933 zu vergleichen, die Mechanismen seien aber ungleich dynamischer als damals.
Manfred de Vries von der Gemeinde Bad Nauheim warnte vor dem schleichenden Antisemitismus, der seinesgleichen suche. Jacques Abramowicz von der Düsseldorfer Gemeinde forderte, der Zentralrat müsse mehr darauf hinwirken, dass Hass-Tweets – wie aktuell «Israel is burning» zu den Waldbränden – juristisch belangt werden. Von islamischem Antisemitismus berichtete Judith Neuwald-Tasbach. Nach einer Synagogenführung für muslimische Jugendliche habe sie Hakenkreuze auf den Toilettentüren gefunden.
Kooperation Mut machte der Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Frank-Jürgen Weise, den Delegierten bei seinem Gastauftritt, indem er volle Kooperation und Unterstützung bei der Beschaffung der erforderlichen Unterlagen für den Zuzug von Juden aus der Ostukraine versicherte.
Die Rabbiner hatten sich eine harmonische Ratstagung gewünscht, und so kam es: Die von der Mandatsprüfungskommission ermittelten 77 Anwesenden mit insgesamt 93 Stimmberechtigungen entschieden alle weiteren Fragen mit großer Mehrheit. Präsidium und Direktorium wurden für das Haushaltsjahr 2015 einstimmig entlastet, die Satzungsänderungen nahmen die Stimmberechtigten einstimmig oder mit großer Mehrheit an.
Der Punkt «Verschiedenes» wurde nicht mehr gewünscht. Die Gesprächsrunden an festlich gedeckten Tischen, Wiedersehensfreude und der kleine persönliche Tratsch fanden am Samstagabend beim Dinner mit Livemusik mit dem hessischen Barock-Quartett statt.