Der Historiker Alan Steinweis, der seinen Kollegen Michael Brenner während dessen USA-Aufenthalts in der Lehrstuhlleitung vertritt, sollte »ein guter Amerikaner und guter Jude werden«. Also sorgten seine Eltern dafür, dass er Englisch und Hebräisch lernte. Dabei war für sie noch Jiddisch »mameloshn« gewesen, eine Sprache, die dem Sohn nicht mehr systematisch vermittelt wurde.
Umso mehr freute Steinweis sich, mit dem Referenten Itzik Gottesman den Beweis für das Weiterbestehen des Jiddischen als einer lebendigen Sprache antreten zu können. Den Referenten führte eine Forschungsreise in Europa »durch zehn Länder in zehn Wochen«.
gestiftet Evita Wiecki, Jiddisch-Lektorin am Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur in München, konnte es kaum glauben, dass – in Kooperation mit dem IKG-Kulturzentrum – inzwischen schon zum vierten Mal zur jährlichen Scholem-Alejchem-Vorlesung eingeladen werden konnte, dieses Mal gestiftet zum Gedenken an David und Scheina Kahan.
Die Namen der Referenten klingen über die Jahre nicht weniger malerisch: Chawa Turniansky, Samuel Kassow, David Fishman und nun Itzik Gottesman. Wiecki kündigte an, dass Gottesman, der »hot shtudirt etnologye un folklore in Pennsylvania un ongeshribn a doktorat mitn titl ›Defining of the Yiddish nation. The Jewish Folklorists of Poland‹«, die vielen Zuhörer einführen werde »in der groyser velt fun dem yidishn folklor«.
Die Verschriftlichung nach den Regeln des New Yorker YIVO-Instituts, die der amerikanischen Phonetik folgen, mag fremd anmuten; in dem Moment aber, wo Jiddisch erklingt, ist das für die Zuhörer nicht mehr wesentlich. Interessanter ist, wie das Aufwachsen in einer jiddischsprachigen Umgebung in der Bronx, in einem Zuhause mit jiddischer Poesie und jiddischen Liedern, unter dem Einfluss der Mutter Beyle Schaechter-Gottesman – die Fachleuten als eine der wichtigsten zeitgenössischen jiddisch schreibenden Autorinnen gilt –, Sprache und Denken von Itzik Gottesman geprägt hat. 13 Jahre war er als Journalist bei der jiddischen Zeitung »Forverts« tätig. Inzwischen ist er Jiddisch-Lektor an die Universität Texas in Austin.
Befehl In den 80er-Jahren arbeitete Itzik Gottesman als Archivar am YIVO-Institut in New York. Damals stieß er auf eine Sammlung, »vos di tsvey yidishe poetn Avrom Sutskever un Shmerke Katsherginski hobn oysbahaltn in der Vilner geto, nokh dem vi di natsis hobn bay zey gebetn oystsuklaybn dos shenste un dos beste tsu shikn keyn Daytshland«. Die beiden Dichter haben den Befehl so weit wie möglich boykottiert, das, was der im Jahr 1925 im litauischen Wilna geschaffenen ethnografischen Kommission YIVO zugegangen war, auszuliefern.
Mit den Jiddisch sprechenden und schreibenden Menschen, ihren Bräuchen, Büchern, Programmzetteln, ihrer Geschichte und Glaubenswelt, ging in der Verfolgungszeit eine Welt zugrunde. Doch bevor dieser »khurbn«, diese Katastrophe, dieser Weltensturm, begann, war erst einmal etwas Großes, Facettenreiches entstanden. »Vi boyt men a yidishland?«, fragte Itzik Gottesman und beschrieb »Yidisher natsyonalizm un folklor in Poyln« anhand von verschiedenen Text- und Tondokumenten.
Gottesman erläuterte, dass etwa die Brüder Grimm geglaubt hatten, mit ihren Volkserzählungen die Seele des deutschen Volkes in den Überlieferungen der Bauern gefunden zu haben. Bei den Juden in Osteuropa sei das ganz anders gewesen, wie eine Erhebung von 1931 ergab. 76 Prozent der polnischen Judenheit lebte in Städten und Schtetln. Insofern wurden jiddische Folkloristen hauptsächlich dort fündig und nicht auf dem Land.
Wurzeln Im Zuge der nationalistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts hatten die Griechen ihre hellenistischen Wurzeln gesucht, die Deutschen die teutonischen, die Franzosen ihre keltischen. Die Jiddischisten aber suchten nicht in der Vergangenheit, die sie zu Eretz Israel und der hebräischen Sprache geführt hätte, sondern in ihrer Gegenwart.
Der Haupttheoretiker des Jiddischismus, Chaim Zhitlovski, wollte die jiddische Sprache als Mittel gegen die Assimilation sogar an die Stelle der Religion setzen, um »tsu bakemfn di vaksndike asimilatsye, un mit der shprakh antviklen a naye veltlekhe kultur«. Manche glaubten, die Liebe zum Jiddischen könnte alle Parteigrenzen zwischen Bundisten, Territorialisten, Poale-Zionisten und frommen Mizrachisten überwinden.
Die Zentren des Forschens und Sammelns befanden sich in der Zwischenkriegszeit in Warschau und Wilna. 1938 erschien eine Auswahl aus den Materialien, die Hunderte von Sammlern ans YIVO-Insitut in Wilna geschickt hatten. Sie dokumentierte das Leben in den jüdischen Enklaven der Schtetl und Städte sowie das der Forscher, die nicht mehr in der Tradition der Großeltern lebten, aber für ihre jiddischsprachige Gemeinschaft an einem »Yidishland« arbeiteten, das nur wenige Jahre später in alle Winde zerstreut war.