Indem wir die Monate der langen Dunkelheit hinter uns gelassen haben, verbinden wir mit Pessach nicht nur in diesem Jahr die Hoffnung auf ein Ende aller dunklen Zeiten. Wir hoffen, dass aus der Unsicherheit des Augenblicks etwas Festes, Belastbares erwächst, ganz so, wie es auch unsere Vorfahren beim Auszug aus Ägypten getan haben. Ohne ihren Aufbruch ins Ungewisse hätte es in der Geschichte kein jüdisches Leben gegeben, und wir tun deshalb gut daran, die Erinnerung an ihr Grundvertrauen Jahr für Jahr beim Seder wachzuhalten.
Ich will jedoch nicht verhehlen, dass es mir gerade in der aktuellen Zeit schwerfällt, dieses Vertrauen zu bewahren. Für die jüdische Gemeinschaft und auch für mich persönlich waren die vergangenen sechs Monate eine Tortur. Wenn es vor dem 7. Oktober 2023 keine Normalität für jüdische Menschen in Deutschland gab, so ist seither auch der Glaube daran ins Wanken geraten.
Der Terrorangriff der Hamas mit seinen mehr als 1000 Toten hat uns bereits den Boden unter den Füßen weggerissen; die Art und Weise aber, wie die öffentliche Meinung sich danach rasant gegen die Opfer wendete, hinterlässt gewiss nicht nur in unserer Gemeinde ein Gefühl wütender Ohnmacht.
Israel hat sich dieser Tage immer größerer Bedrohungen zu erwehren.
Die Kälte und Leichtfertigkeit, mit der manche Zeitgenossen im In- und Ausland zuletzt meinten, den Menschen in Israel naseweise Ratschläge erteilen zu müssen, während noch immer mehr als 100 israelische Zivilisten seit inzwischen mehr als einem halben Jahr in den Verliesen unter Gaza gefangen gehalten werden, hat eigentlich keine Entgegnung mehr verdient. Aber Sprachlosigkeit wäre in dieser Situation genau die falsche Antwort.
Das sage ich nicht nur mit Blick auf Israel, das sich dieser Tage immer größerer Bedrohungen zu erwehren hat. Der abgewehrte iranische Angriff vom vergangenen Wochenende hat nur wieder gezeigt, wie ruchlos die Feinde des jüdischen Staates in ihrem wahnhaften Hass vorgehen.
Auch im Kampf gegen einen wachsenden Extremismus hier in Deutschland müssen wir zu hören sein – einmal, weil es auf jede Stimme ankommt, aber auch, weil es schlicht nötig ist wie nie. Schon in weniger als zwei Monaten steht mit der Europawahl eine bundesweite Abstimmung an, bei der für die Rechtsextremen auch und besonders in Deutschland erneut Zuwächse zu befürchten sind. Hier können wir noch alle mit unseren eigenen Wahlzetteln ein Gegengewicht schaffen. Wenn aber bei den Landtagswahlen im Herbst die Wähler antidemokratische Parteien wie die AfD zu beflügeln drohen, sind wir in München zum Zuschauen verdammt.
Sofern keine Trendumkehr mehr einsetzt, werden wir dann gewärtigen müssen, wie der Demokratie ausgerechnet an den Wahlurnen ein schwerer Schlag versetzt wird. Darauf zu hoffen, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommt, genügt jedenfalls nicht. Jeder Einzelne muss etwas tun.
Hier kommt wieder das Vertrauen ins Spiel: Ohne Selbstbewusstsein als Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft, als Bürger dieses Landes und als Demokraten ist für uns jeder Kampf verloren, bevor er begonnen hat. Das gilt für die politische Auseinandersetzung mit den Wiedergängern der Geschichte, die dem jüdischen Leben in Deutschland die Grundlage entziehen wollen, ebenso wie für unseren Einsatz für Israel.
Ohne Vertrauen wäre auch jüdisches Leben in Deutschland niemals geworden, was es heute ist.
Diese Fragen lassen sich ohnehin nicht sinnvoll trennen, egal, ob man zur jüdischen Gemeinschaft gehört oder nicht. Wer den Feinden der Demokratie im Inland einerseits laut die Grenzen aufzeigt, zugleich aber Israel in Wort und Tat daran zu hindern versucht, sich gegen seine – und unsere – Feinde zur Wehr zu setzen, der schadet den eigenen Zielen. Jüdisches Leben in Selbstbestimmung und Freiheit ist jedenfalls nicht nur die Botschaft von Pessach, sondern muss auch politisch unverhandelbare Realität sein, in München nicht anders als in Tel Aviv oder Nir Oz.
Aus dieser Gewissheit müssen wir das Vertrauen schöpfen, das wir so dringend brauchen. Ohne dieses Vertrauen wäre Israel der Traum geblieben, der es lange war, und ohne dieses Vertrauen wäre auch jüdisches Leben in Deutschland niemals geworden, was es heute ist. Die Unsicherheit des Augenblicks würde unser Dasein bestimmen.
Das Feste und Beständige, das wir dagegen in unserem Alltag und alljährlich an der Sedertafel erleben dürfen, wurde von unseren Vorfahren mit Vertrauen erworben. Wir stehen deshalb heute umso mehr in der edlen und dringenden Pflicht, es für unsere Kinder zu erhalten.
Damit wünsche ich Ihnen und Ihren Familien Chag Pessach kascher we-sameach!