Noch vor 20 Jahren hätte Lea Balint über ihre Geschichte öffentlich nicht sprechen können. Heute berichtet sie in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main vor mehr als 100 Zuhörern und beginnt folgendermaßen: »Ich habe eigentlich zwei Biografien.«
Lea Balint ist die Tochter polnischer Juden und eines jener Kinder, die in einem Kloster überlebt haben. Vier Jahre alt war sie, als sie 1943 in die Obhut katholischer Nonnen gegeben wurde. Nach dem Krieg kommt sie in ein Waisenhaus. Dort wird aus dem katholisch erzogenen Mädchen, das in eine jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren worden war, eine »stramme Kommunistin«.
Als der Vater, der im Gegensatz zu Lea Balints Mutter den Holocaust überlebt, mit der Tochter in das »kapitalistische Israel« auswandert, verspricht die Zwölfjährige ihren Lehrern, dort »in den Untergrund zu gehen und alle zu Kommunisten zu machen«. Wenn die 73-Jährige von ihrer »ersten Biografie« erzählt, dann auch mit Humor. Lange Zeit war ihr das nicht möglich.
Lebensabschnitt Leas zweite Biografie beginnt 1950, mit der Ankunft in Israel. »Es war November, es regnete, und dann war alles wieder trocken und so sauber. Ich trank ein Glas Orangensaft und war glücklich.« Die Anfangszeit sei aber nicht einfach gewesen, berichtet Balint bei der Tagung »Gebrochene Identitäten« unter der Federführung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Die Kinder waren ihr gegenüber »grausam«, und niemand wagte, »die Wörter Holocaust oder Schoa in den Mund zu nehmen. Aber sie haben mich angeschaut, als sei ich ein Stück Seife.«
Schwierig ist auch das Leben mit dem Vater. Mehrmals am Tag hört sie ihn klagen: »Ich habe alles verloren, meine Frau, meine Familie, mein Vermögen, aber nicht meine Würde.« Und nachts hört die Tochter ihn weinen und schreien und fühlt sich hilflos. »Unheimlich froh« ist die jugendliche Lea, als sie zur Armee gehen kann. Balint studiert an der Hebräischen Universität in Jerusalem und forscht später über Kinder, die ihre Ursprungsfamilien verloren haben. Auf ihre Initiative hin richtet das Museum der Ghetto-Kämpfer eine spezielle Abteilung für Kinder ein, die ihre Herkunft nicht kennen.
Warschau Als sie 1984 mit einer Delegation ihrer Hochschule nach Polen reist, schafft sie es noch nicht, nach ihrer »ersten Biografie« zu forschen. Es ist ihr nicht möglich, sich ins historische Institut in Warschau zu begeben. Erst sechs Jahre später wagt Lea den Schritt über die Schwelle des Ortes, in dem ihre Vergangenheit archiviert ist.
Der Direktor überreicht ihr eine Kiste mit 800 Karteikarten und Fotos. Stundenlang sucht sie nach ihrem Zettel – erst unter dem Geburtsnamen Altermann, dann unter Alina Herla, wie sie im Kloster hieß. Unter Seidenberg – dem Mädchennamen ihrer Mutter – wird sie fündig: Mutter und Tochter waren im Ghetto Ostrowitz, kamen von dort nach Warschau, wo die Mutter ein Versteck fand; das Mädchen wurde in ein Kloster gebracht und lebte dort drei Jahre, danach wurde sie von ihrer Familie aufgenommen. Ihre Mutter wurde von der Gestapo mitgenommen und kam nie zurück.
»Ich las das Kärtchen ... und hatte plötzlich die zwölf Jahre wieder zurück«, berichtet Lea Balint. Nach ihrer Rückkehr aus Polen kann sie zunächst nicht darüber sprechen. »Ich hatte Angst, zu berichten, dass ich eine Holocaust-Überlebende bin. Niemand hatte das gewusst, ich war eine Israelin unter vielen gewesen. Ich hatte Polnisch komplett vergessen und keinen Bezug zu dem Land.«
Israelin Als ein Kind mit verlorener Identität habe sie sich selbst aber nie gefühlt, erklärt sie auf Nachfrage des Psychiaters Martin Auerbach, der klinischer Direktor von Amcha Israel ist. Lea Balint war Katholikin, hat zu Jesus gebetet, war Polin und hat jetzt eine Identität als Israelin. »Ich bin jüdisch, Israelin und glücklich, das sagen zu können«, sagt sie. Kind-Überlebende des Holocaust wie Lea Balint beschreibt Auerbach als Personen mit »integrativem Selbstgefühl«. Bei diesen Menschen seien Teile ihrer früheren Identität nicht komplett abgespalten. Es gebe aber Überlebende, die ihre Identitäten sehr widersprüchlich erlebten. Auch das sei »normal«, so Auerbach.
Problematisch hingegen sei es für traumatisierte Überlebende, deren Kontakt zum »inneren Kind«, zu bestimmten Anteilen ihrer selbst, spärlich oder abgebrochen sei. Diese Menschen hätten gebrochene Identitäten und könnten sich nie wieder freuen. Lea Balint beschreibt sich als einen glücklichen Menschen. »Auch weil ich beschlossen habe, es zu sein.«