Kaum jemand polarisiert die Öffentlichkeit zurzeit so sehr wie sie: die Aktivistinnen und Aktivisten der »Letzten Generation«. Mit ihren Aktionen rufen sie eine ganze Bandbreite an Reaktionen hervor – von Empörung über Hass, bis hin zu Verständnis und Solidarität.
Egal, wie man zu den »Klima-Klebern« steht, ihnen gelingt es aktuell, die Schlagzeilen zu bestimmen. Auch als die Letzte Generation vergangene Woche mit ihren koordinierten Kundgebungen und Straßenblockaden in Berlin begann, war ihnen die Aufmerksamkeit sicher. Ihr Ziel: die Stadt lahmlegen.
TORA Rabbiner Yehuda Teichtal findet das Anliegen der Aktivisten nachvollziehbar. »Die Tora sagt, wir sollen uns um die Umwelt kümmern«, erzählt er im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Gott hat die Welt erschaffen, und wir sind für sie mitverantwortlich.« Auch aus einer jüdischen Perspektive sei es wichtig, den Klimaschutz voranzubringen, glaubt der Gemeinderabbiner von Chabad Berlin.
Doch das tue die Letzte Generation seiner Meinung nach mit ihren Methoden gerade nicht: »Man erreicht keine guten Dinge, wenn man anderen schadet.« Mit ihren Straßenblockaden, bei denen sich Aktivisten auf die Fahrbahn kleben, würden sie andere Menschen in Gefahr bringen. »Menschen, die in einen Unfall geraten, kann die nötige Hilfe vielleicht nicht erreichen.«
Zwar betont die Letzte Generation immer wieder, dass sie bei ihren Aktionen Rettungsgassen bildet, um Nothelfer durchzulassen. Nach übereinstimmenden Medienberichten sollen jedoch in Berlin allein am Montag mindestens 20 Rettungswagen wegen Straßenblockaden im Stau festgesessen haben.
blockaden Rabbiner Teichtal findet einen weiteren Aspekt der Blockaden kritikwürdig: »Durch den verursachten Stau entstehen sogar noch mehr Umweltschäden.« Auch das jüdische Leben der Stadt sei durch die Aktionen beeinträchtigt. Viele Mitarbeiter der Gemeinden würden durch die Beeinträchtigung des Verkehrs zu spät kommen.
Auch die Bildungseinrichtungen, die Chabad in Berlin betreibt, sind betroffen, so Teichtal. »Kinder, Lehrer und Erzieher kommen nicht rechtzeitig in Kitas und Schulen«, berichtet er. Für ihn steht fest: Die Proteste der Letzten Generation richten mehr Schaden an, als dass die nutzen.
Heike Michalak kann die Eindrücke von Rabbiner Teichtal aus erster Hand bestätigen. Sie ist die Leiterin der Jüdischen Traditionsschule Or Avner, die von Chabad getragen wird. »Die Aktionen der Letzten Generation gehen zulasten der Kinder und vor allem der Abiturienten«, erzählt sie. Als am Montag die ersten Blockaden begannen, wurde in Berlin gerade das Geschichtsabitur geschrieben. »Am Morgen bekam ich die ersten Anrufe, dass manche Kollegen es womöglich nicht schaffen werden«, so Michalak. Mit viel Glück konnten an diesem Tag die Prüfungen dennoch wie geplant geschrieben werden.
»Man erreicht keine guten Dinge, wenn man anderen schadet.«
Rabbiner Yehuda Teichtal
Die Jüdische Traditionsschule liegt im Westen Berlins und hat aufgrund ihres besonderen Profils ein sehr großes Einzugsgebiet. Die meisten Schüler fahren mit dem Bus an, die nächste S-Bahn-Haltestelle ist 20 Minuten Fußweg entfernt. Michalak fürchtet daher, dass die Abiturienten ihrer Schule in den nächsten Tagen in besonderem Maße von den Aktionen der Letzten Generation betroffen sein könnten. »Wir haben Angst und Bedenken – es stehen ganz viele Prüfungen an!«
Sie habe grundsätzlich Sympathie für mehr Umweltschutz, erzählt Michalak. Doch die Methoden der »Klima-Kleber« lehne sie ab. »Diese Generation braucht auch eine bildungspolitische Chance, und die Frage ist, ob die ihnen gerade genommen wird.«
NERVEN Alexandra Melendez sitzt im Auto und telefoniert über die Freisprechanlage. »Wenn mir das jetzt passiert, wüsste ich nicht, wie ich damit umgehen würde«, sagt sie. Sie meint die Klebe-Aktionen der Letzten Generation. Melendez befindet sich gerade auf dem Weg ins Krankenhaus: Ihr zweieinhalb Jahre alter Sohn hat eine Lungenentzündung. »Es ist zum Glück nicht ernst«, sagt die junge Mutter. Dennoch, ihre Nerven liegen blank.
Sie steckte schon einmal in einem Stau, der durch Klimaaktivisten verursacht wurde. Damals saß ihr Kind mit im Wagen. »Zum Glück war er sehr ruhig«, erinnert sich Melendez. Doch im Ernstfall wäre sie »aufgeschmissen«, sagt sie. »Ich kann die Wut der Autofahrer nachvollziehen.« Sie selbst sei im alltäglichen Leben auf einen Pkw angewiesen.
»Ich habe schon Verständnis für die Anliegen der Letzten Generation«, wägt Melendez ab. Die Politik macht ihrer Meinung nach zu wenig für den Klimaschutz. »Ich bin aber nicht damit einverstanden, dass die Blockaden den Bürger treffen, der morgens zur Arbeit muss.« Sie ist überzeugt, dass der Klimaprotest klüger sein kann. »Es muss ein anderer Weg gefunden werden.« Für ihr Kind möchte sie selbst ein Vorbild sein. Ihm will sie vorleben, »dass man seinen Müll trennt und achtsam mit der Natur ist«. Auf dem Weg ins Krankenhaus gab es dieses Mal keine Blockaden der Letzten Generation, berichtet Melendez später. Ihr Kind ist mittlerweile wieder zu Hause.
UNTERSTÜTZUNG Viel Verständnis für die Letzte Generation hat Nathalia Schomerus. »Der Klimawandel ist eine reale Katastrophe, die schon heute Menschenleben kostet«, betont die in Berlin lebende Juristin die Dringlichkeit des Anliegens der Aktivisten. Dagegen findet sie deren Forderungen »ziemlich zahm« und unterstützenswert. Die Letzte Generation verlangt für die Einstellung ihrer Straßenblockaden ein generelles Tempolimit und die dauerhafte Einführung eines 9-Euro-Tickets.
Schomerus kennt viele Aktive der Klimabewegung, auch solche, die sich der Letzten Generation angeschlossen haben. Mit ihnen hat sie sich in den vergangenen Tagen wiederholt ausgetauscht. »Die Letzte Generation hat sich auf Werte geeinigt, zu denen Gewaltfreiheit und eine Vermeidung der Gefährdung des Verkehrs gehören«, resümiert Schomerus das Ethos der Aktivisten. Dennoch kritisiert sie, dass sich die Letzte Generation nicht an das Versammlungsrecht hält. »Der Rechtsstaat ist nicht weniger wichtig als das Klima«, findet sie. »Mit vielen Klimaaktivistinnen und -aktivisten bekomme ich mich darüber auch in die Wolle.«
Zudem ist Schomerus davon überzeugt, dass es nicht reicht zu demonstrieren. Sie möchte, »dass mehr Menschen Alternativen entwickeln und konstruktiv etwas Positives schaffen, anstatt nur alles nieder zureden«. Wie das gehen kann, macht sie selbst vor. Sie hat die NGO »re:net« gegründet, die sich dem Recyceln von Plastiknetzen verschrieben hat. In diesem Bereich bestehe derzeit ein eklatantes Nachhaltigkeitsdefizit, sagt Schomerus. »Viele Unternehmen wollen gerne klimaschonender arbeiten, sehen aber noch keine Alternativen.« Diese Alternativen biete sie mit »re:net« an. »Nicht nur beschweren, sondern auch tun« – das ist die Einstellung, von der sie sich mehr wünscht.